Die russische Menschenrechtlerin Gannuschkina meint: Bei Vielen ist das Gefühl „die Krim ist unser“ dem Gefühl „die Krim ist unser Ende“ gewichen [1]
Swetlana Gannuschkina, Vorsitzende des Komitees für „Zivile Mitwirkung“, sprach mit „Focus.ua“ darüber, wie Flüchtlinge aus dem Donbas in Russland aufgenommen werden, und welche Probleme sich Putin mit der Krim zugelegt hat.
von Tatjana Selesnewa – Focus.ua, 28.10.14
Das Komitee für „Zivile Mitwirkung“, dessen Vorsitzende Sie sind, leistete Hilfe für Flüchtlinge aus dem Osten der Ukraine. Wie viele solcher Menschen gibt es laut den Ihnen vorliegenden Daten?
Wenn wir uns die Statistik der Anträge ukrainischer Staatsbürger auf vorübergehendes Asyl anschauen, sind es etwa 150.000 bis 160.000 Menschen. Den Status “vorläufiges Asyl” bekommen etwa 90% der Ukrainer bewilligt. Einen Antrag auf einen Flüchtlingsstatus stellten etwa sechstausend Menschen, bewilligt bekamen ihn etwas mehr als einhundert Flüchtlinge. Bei uns wird dieser Status überhaupt niemandem zugesprochen, es handelt sich hierbei also vermutlich um Berkut-Kämpfer.
Welche Art von Hilfe lassen Sie diesen Menschen zukommen?
Neben der juristischen Unterstützung gibt es ein spezielles Programm für materielle Hilfe. An die Verwaltung der Lager, in welchen die Menschen auf engem Raum angesiedelt werden, geht aus dem Budget eine Summe in Höhe von 800 Rubel pro Kopf und pro Tag. Das umfasst die Organisation des Wohnraums, die gesamte Infrastruktur, Verpflegung, ist also alles in allem ein kleiner Betrag. Bargeld erhält der Einzelne nicht.
In welchen Städten werden ukrainische Flüchtlinge aufgenommen?
Es existiert ein Regierungsbeschluss, der einen Prozentsatz an Flüchtlingen aus der Ukraine festsetzt, die „in den Regionen aufgenommen werden müssen“. Was bedeutet aufnehmen? Ich fasse „aufnehmen“ als das Geben von Heim und Herd auf, aber in unserem Land wird es verstanden als die Möglichkeit des Asylantrags. In diesem Beschluss wird der Stadt Moskau, der Oblast Moskau, der Stadt Sankt Petersburg, der Oblast Rostow, der Krim und Sewastopol – verzeihen Sie, ich sage nur, wie es dort steht – freigestellt, niemanden aufzunehmen. In Petersburg bekommt man beispielsweise zu hören: Wir werden nichts zur Verfügung stellen, aber den Antrag auf Legalisierung nehmen wir entgegen. Moskau nimmt nicht einmal Anträge an. Stellen Sie sich vor, da kommt ein Mädchen aus Luhansk, ihr Haus wurde zerstört, ihre Mutter lebt in Moskau, aber ihre Papiere werden nicht anerkannt – die Quote liege bei Null. Es kann keine Quote für Asylbewilligung geben – das wäre absurd. Es gibt Quoten für die Aufnahme von Arbeitsmigranten oder für die Bewilligung eines ständigen Wohnsitzes, eine Quote für Asyl kann es nicht geben. Aber ihre Papiere werden nicht entgegengenommen, und man legt ihr nahe, in den Osten zu fahren. Unseren Osten, den Fernen. Oder, ein anderes Beispiel: Ein Sohn in Moskau möchte seine Flüchtlingseltern in seiner Wohnung aufnehmen – dasselbe Problem mit den Papieren. Oder jemand aus dem Donbas, mit einer soliden Ausbildung – er spricht mehrere Sprachen, hat in der Ukraine für irgendein internationales Unternehmen gearbeitet und eine Stelle hier gefunden. Wieso soll er nach Sachalin? Warum schickt man ihn in die Republik Tschuwaschien? Uns liegen Beschwerden aus Tschuwaschien vor, aus den Regionen Primorje und Sewastopol, darüber, dass man Menschen dorthin schickt.
Ist der Flüchtlingsstrom in Zusammenhang mit dem sogenannten Waffenstillstand abgeflaut?
Jetzt ist der Strom weniger geworden, viele kehren langsam zurück, weil sie es nicht geschafft haben, hier Fuß zu fassen, sie wenden sich an uns mit der Bitte um Hilfe für das Rückfahrticket. Manche dachten, es würde eine „Krimsche Lösung“ geben und das Donbas-Gebiet würde annektiert werden. Aber weil das nicht geschehen ist, Gott sei dank, beschlossen Sie zurückzukehren. Es gibt auch solche, die hier durchaus leben und arbeiten könnten, aber finden, dass es an der Zeit ist, nach Hause zu gehen. Ich finde, das ist die beste Lösung – wirklich, es wird Zeit, nach Hause zu gehen! Es gibt doch einen Ort, an den man gehen kann.
Was berichten die Asylbewerber über die Situation in der Ukraine?
Verschiedene Dinge. Manches kann man einfach nicht wiedergeben, weil es absolut keinen Sinn ergibt. Sehr viele Informationen entstammen einfach den russischen Fernsehsendern. Aber selbst ohne Propaganda wird der Konflikt von Legenden überwuchert: an Schweine verfütterte Kinder, Säuglinge, die aus dem Krankenhaus geholt und vor die Panzer geworfen wurden, Kleinkinder, auf den großen Plätzen in Donezk zusammengetreten. Die Flüchtlinge sprechen das nach. Es gibt sehr tolle Geschichten, wenn z.B. jemand alle möglichen Gruselgeschichten erzählt, und dann fragt man denjenigen: „Haben Sie das mit eigenen Augen gesehen?“, sagt er: „Ja!“, und wenn man dann fragt: „Wo?“, kommt: „Im Fernsehen.“
Realisieren denn die Russen langsam selbst, dass die staatlichen Sender sie belügen?
Leider hat sich die Propaganda als gut durchdacht erwiesen. Da erzählt mir in Sewastopol ein junger Mann hocherfreut, wir würden „die Sowjetunion von der Krim bis nach Alaska wieder aufbauen“. Das ist Punkt eins – wir „bauen unser großes Land wieder auf“. Das Zweite, was die Propaganda benutzt hat, ist der Begriff des „Faschismus“. Es gibt die heiligen Seiten in unseren Geschichtsbüchern, als wir alle gegen den Faschismus gekämpft und gesiegt haben. Und jetzt kämpfen wir wieder – die Menschen haben das erstaunlich schnell geschluckt. Es gibt die „Stimme des Volkes“, ich höre sie oft von Taxifahrern – so wird die soziale Stimmung akkumuliert. Und so hörte ich einmal von einem Fahrer, dass es in der Sowjetzeit besser war, weil das Leben zwar beschissen war, klar, aber wenigstens hatten wir ein großes Land. Und jetzt, sagte er, sei das Leben beschissen, und das Land sei es ebenfalls. Ich weiß, dass viele Menschen in Russland im Moment wegen der ganzen Situation stark depressiv sind. Seit der Krim-Annexion, als dieses „die Krim ist unser“-Lied angestimmt wurde, machte sich zugleich das Gefühl breit: „Die Krim ist unser Ende“. Für viele Menschen, besonders für die Jugend, ist das ein sehr schlimmer Zustand. Das beunruhigt mich in unserer Gesellschaft sogar mehr, als die Lebhaftigkeit derjenigen, die sich freuen. Diese zweite Gruppe hat den längeren Atem… Die Ersteren sind der Ansicht, das sei das Ende des Lebens, das Ende von sehr vielem, das Ende einer langen historischen Etappe.
Die „Krim-Frage“ hat es letztlich nicht geschafft, die russische Gesellschaft zu spalten – die Mehrheit der russischen Bevölkerung ist der Meinung, ihr Präsident habe richtig gehandelt, als er das Territorium des Nachbarlandes annektiert hat, was gleichzeitig bedeutet, dass keine Rede von einer Rückgabe der Krim oder dem Rückzug der Militärs sein kann. Selbst sogenannte Oppositionelle – Nawalny und Chodorkowski – kämpfen nicht gegen diese These an. Wie stehen Sie dazu?
Als Chodorkowski aus der Haft entlassen wurde, habe ich mich gefreut. Aber ich habe aufgehört, über ihn nachzudenken, als er sagte: „Wir haben den Kaukasus erobert“. Da verstand ich, dass wir völlig unterschiedlich sind. Ich habe niemanden erobert, ich gehöre zu denjenigen, die niemanden erobert haben. Die Menschen im Kaukasus sind uns ebenbürtige Staatsbürger, wie du und ich, wie auch immer die Geschichte der Beziehungen unserer Vorfahren gewesen sein mag. Ich wünsche ihnen Glück und Prosperität, und der Gerichtsstand kümmert mich in dieser Hinsicht null. Für mich war mit dieser Aussage Chodorkowskis alles vorbei. Und was Nawalny betrifft, ist sowieso alles gesagt. Er ist ein Nationalist. Als er sagte, die meisten Verbrechen in Russland würden von Ausländern verübt, erklärte man ihm an Hand von Zahlen, schwarz auf weiß, dass das nicht stimmt, und er behauptete weiterhin das Gegenteil. So etwas macht Menschen für mich uninteressant.
Was wissen Sie über Entführungen und gewaltsame Todesfälle von Krimtataren auf der Krim?
Ich habe im April mit Krimtataren gesprochen, damals hatten ein paar Aktivisten versucht, diese seltsame Möglichkeit zur Ablehnung der russischen Staatsangehörigkeit zu verlängern, die sie in Wirklichkeit gar nicht gehabt haben. Überhaupt, diese Idee ist dermaßen fern von allem Recht und so absurd – das ist, als würde man mir anbieten, mich von meinem Nachbarn scheiden zu lassen: Ich war niemals mit ihm verheiratet, was soll ich mit einer Scheidung?! Genauso ist es hier – wenn ich niemals russischer Staatsbürger gewesen bin, wie kann es mir freigestellt werden, es nicht mehr zu sein? Aber insgesamt hatte ich das Gefühl, dass die Krimtataren folgenden Standpunkt hatten: Wir müssen unser Volk beschützen, müssen unsere Brüder aus den ehemaligen Republiken zurückholen, und wenn die russische Regierung uns das gestattet, müssen wir mit ihr zusammenarbeiten. Aber dieser Standpunkt fiel an jenem Tag in sich zusammen, als man Mustafa Dschemiljew nicht auf die Krim ließ, denn für jeden Krimtataren ist er ein Held. Das, was im Moment passiert, wirft sehr viele Fragen auf. Diese Annexion ist moralisch nicht annehmbar. Aber Russland hat die Verantwortung für das, was dort geschieht, auf sich genommen, und jetzt steht die Frage im Raum, ob es dieser gewachsen ist.
Wie werden rechtliche Fragen auf dem Territorium der Krim gelöst? Inwiefern werden diejenigen sanktioniert, die die ukrainische Staatsangehörigkeit behalten haben?
Ich weiß, dass alle staatlichen Angestellten, die den russischen Pass abgelehnt haben, entlassen wurden. Jetzt entlässt man auch die Angestellten im öffentlichen Dienst. Ich habe Gesuche zu zwei Fragen an das Föderale Migrationsamt verfasst – dazu, wie Menschen eine Staatsangehörigkeit ablehnen können, die sie niemals innehatten, und wie man sich vor einer Kündigung schützen kann. Das Migrationsamt antwortet stets recht ausführlich, aber jetzt bekam ich als Antwort: „In jedem konkreten Fall haben Sie sich an das zuständige Migrationsamt zu wenden“. Diese Antwort ist sehr einfach zu übersetzen: „Wir wissen es nicht“. Jemand sagt z.B.: „Ich möchte nicht russischer Staatsbürger sein“, und als Antwort bekommt er: „Sie sind es bereits“. Wie geht man mit denjenigen um, die die ukrainische Staatsangehörigkeit behalten haben? Wie mit einreisenden Ausländern? Wie mit Aufenthaltsgenehmigungen? Das mutet alles sehr seltsam an, ich glaube, es herrscht dort Chaos. Und dann gibt es auch noch Beschwerden – Krimtataren, die aus ehemaligen Republiken eingereist waren, werden jetzt der Krim verwiesen.
Was sind heute für Russland die Auswirkungen der sogenannten „Anbindung“ der Halbinsel in Bezug auf Wirtschaft, Politik und Kultur?
Ich glaube, politisch gesehen gibt es schwere Einbußen. Russland hat aufgehört, wie ein demokratisches Land auszusehen. Sogar vor dem Hintergrund des nicht besonders erfreulichen Ganzen hat Russland das Antlitz eines Aggressor-Landes bekommen, eines gefährlichen Landes, das den demokratischen Weg verlassen hat. Was das Kulturelle betrifft… Ich war dabei, als das einzige ukrainische Gymnasium in Simferopol geschlossen wurde – was kann es da schon Positives über das Kulturelle zu sagen geben? Wirtschaftlich gesehen haben wir eine schwere Last auf uns genommen, die wir ganz und gar nicht gebrauchen können. Weder für uns noch für die Krim bringt das wirtschaftliche Vorteile. Ich verstehe nicht, welche moralisch-sittlichen Beweggründe hier als Anlass gedient haben, denn der Schutz der russischen Bevölkerung seitens unserer Regierung – daran glaube ich nicht. Wir haben die Russen in Turkmenistan sich selbst überlassen. Es gab eine Übereinkunft zur doppelten Staatsangehörigkeit, die auch nach wie vor gilt. Dort leben russische Staatsbürger, die gleichzeitig Bürger Turkmenistans sind, und es gab Todesfälle solcher Menschen unter ungeklärten Umständen. Es existieren sehr viele zweifelhafte Berichte, aber wir erklärten Turkmenistan nicht den Krieg, nicht einmal der Ton wurde verschärft – wir haben diese Menschen einfach sich selbst überlassen. Das alles betrifft nicht nur Turkmenistan. Unser Programm der freiwilligen Umsiedlung russischer Staatsbürger läuft schlecht: Wir wollen ihnen nicht helfen, wir wollen mit ihnen nur die depressiven Regionen stopfen. Das kann man nicht als wohlgesinnte Aufgabe betrachten, und die Menschen machen da nicht mit. Die Zeiten sind vorbei, als man einfach gehorchte, Komsomolsk am Amur baute oder was auch immer.
Warum sind in Russland Tragödien wie die auf dem Flughafen Vnukovo möglich?
Solche Tragödien sind immer und überall möglich. Das ist leider der Zerfall der administrativen Systeme. Wir sind generell ein leichtsinniges Volk, Menschen mit einem leicht angeknacksten Selbsterhaltungstrieb. Wir fahren oft an Orte, an die wir nicht fahren sollten, springen von Stellen, von denen wir nicht springen sollten – so funktionieren wir. Das sind genetisch bedingte Dinge. Ich bin gegen Verschwörungstheorien, ich glaube nicht, dass das jemand böswillig geplant hat.
Würden Sie zum jetzigen Zeitpunkt einwilligen, in den Beirat beim Präsidenten zurückzukehren?
Ich habe im Beirat gearbeitet [Menschenrechtsrat beim russischen Präsidenten – Anm. d. Red.], aber ich habe aufgehört. Am 24. September 2011 verkündete Medwedew, er und Putin hätten sich geeinigt: Wladimir Wladimirowitsch sollte der nächste Präsident werden. Da habe ich verstanden, dass ich dort falsch bin. Sie haben sich geeinigt, was machen wir dann noch hier? Ich bin auch nicht zur Wahl gegangen. Wozu? Zwei Burschen haben ausgemacht, wer Präsident wird, was soll ich danach noch raten. Dmitri Anatoljewitsch [Medwedew] ist ein gutmütiger, offener und treuherziger Mensch. Ich zitiere ihn oft und gerne, weil er die Situation tatsächlich ganz richtig einschätzt. Ich frage mich nur eines – wie kannst du dich damit abfinden? Verstehen Sie, er schätzt die Situation genau so ein wie ich, aber ich bin nicht bereit, mich damit abzufinden, er hingegen findet, das ist eben so. Ich lache, aber in Wirklichkeit ist das Galgenhumor.
[1] Das Wortspiel im Original: У многих появилось ощущение “намкрыш” вместо “крымнаш”Autorin: Tatjana Selesnewa
Quelle: Focus.ua, 28.10.14
Übersetzung aus dem Russischen: Jennie Seitz
Redaktion: Euromaidan Press auf Deutsch