Ein Sprecher des russischen Außenministeriums behauptete vor kurzem, dass das Minsker Abkommen nicht die Freilassung von Nadija Sawtschenko vorsehe. Da die ukrainische Offizierin zunächst durch vom Kreml unterstützte Militanten in der Ukraine gefangen genommen worden war, bevor sie schließlich in russische Gefangenschaft kam, ist es schwierig zu verstehen, mit welcher Begründung sie von dieser Vereinbarung ausgeschlossen werden könnte. Warum die russischen Ermittlungsbehörden nun versuchen, ihren “Prozess” hinter verschlossenen Türen abzuhalten, ist jedoch viel offensichtlicher.
Sawtschenko hat die die von den Ermittlern präsentierte Version der Ereignisse mit Nachdruck abgestritten und besteht weiterhin darauf, dass sie mit Gewalt nach Russland verbracht wurde. Es gibt keinerlei Beweise für die Anklage der Beteiligung am Tod von zwei russischen Journalisten, und ihre Anwälte haben angegeben, dass sie nachweisen können, dass Sawtschenko bereits zu dem Zeitpunkt gefangen genommen worden war, als die Journalisten bei einem Mörser-Angriff zu Tode gekommen sind.
Nichts davon hat jedoch vor dem Gericht den geringsten Unterschied ausgemacht; das Gericht hat alle Anträge der Ermittlungsbehörden für ihre weitere Unterbringung in Untersuchungshaft durchgewunken. Eine Beschwerde gegen die zwangsweise psychiatrische Begutachtung wurde bis zum 13. Oktober zurückgestellt,. Es ist nicht klar, wann eine Entscheidung über den Antrag auf eine Gerichtsverhandlung hinter geschlossenen Türen getroffen wird. Da der Richter bisher schon regelmäßig Sawtschenko die Anwesenheit bei Gerichtsverhandlungen gegen sie selbst verweigerte, erscheint es unwahrscheinlich, dass der Antrag auf geheime Verhandlung abgelehnt werden wird.
Andererseits unterliegen anscheinend aber nicht alle der Geheimhaltung. Am 29. September zeigte der pro-russische Kreml-Fernsehsender LifeNews ein früher schon einmal gesendetes und stark bearbeitetes Interview mit Nadija Sawtschenko. Es handelt sich um Videoaufnahmen, wie Sawtschenko des Untersuchungsgefängniss verlässt. Sawtschenko war nicht gefragt worden, ob sie der Ausstrahlung des Videomaterials zustimmt, und ihre Anwälte planen, Klage wegen der Verletzung ihrer Privatsphäre einzureichen. Zur Zeit befindet sie sich Berichten zufolge in einem Moskauer Untersuchungsgefängnis und wartet auf das Ergebnis des Berufungsverfahrens gegen die Pläne, sie im berüchtigten Serbski-Institut in Moskau einer “psychiatrischen Beurteilung” zu unterziehen.
Bereits Ende August war bekannt geworden, dass Sawtschenko gezwungen werden sollte, sich im Serbski-Institut in Moskau einer sogenannten psychiatrischen Untersuchung zu unterziehen.
Sawtschenko verurteilte eine solche “Untersuchung” als illegal. Ihr Anwalt Mark Fejgin veröffentlichte damals eine persönliche Erklärung von Nadija Sawtschenko, in der sie bestätigt, dass sie “illegal aus der Ukraine entführt und widerrechtlich in die Russische Föderation verbracht wurde sowie hier illegal in Haft gehalten wird”. Sie kündigte an, sie verweigere jegliches Gespräch mit dem Klinikpersonal, jede Art von Aussage, jegliche Beantwortung auf alle Fragen ob schriftlich oder mündlich, Formulare auszufüllen oder sich irgendwelchen Tests zu unterziehen.
Die Serbski-Institut erlangte in der sowjetischen Zeit traurige Berühmtheit wegen seiner Rolle bei der Anwendung von Strafpsychiatrie, und es gibt sehr berechtigte Bedenken hinsichtlich der möglichen Methoden, die gegen die ukrainische Offizierin angewandt werden könnten. Diese Bedenken werden beschrieben in einem Aufruf einer Reihe von ukrainischen Psychiatern, darunter auch Semjon Glusman, ein Opfer der sowjetischen Strafpsychiatrie.
Nadija Sawtschenko wurde in der [ukrainischen] Region Luhansk von Kämpfern der selbsternannten “Luhansker Volksrepublik” am 17. oder 18 Juni gefangengenommen. Zwei Tage später erschien ein Video von ihr, wie sie von den Militanten verhört wird. Sie zeigte Mut bei der Vernehmung und weigerte sich, die Informationen zu geben, die die Militanten von ihr forderten.
Am 2. Juli ordnete ein russisches Gericht Untersuchungshaft gegen sie an und verlängerte den Gewahrsam bis zum 30. August. Russlands Untersuchungsausschuss verkündete am 9. Juli, da gegen Sawtschenko Anklage erhoben werde wegen angeblicher “in einer Gruppe begangener Komplizenschaft bei der Tötung von zwei oder mehr Personen, die ihrer amtliche Tätigkeit nachgingen, auf eine gemeingefährliche Art und Weise und aus Gründen des politischen Hasses”.
Die Ermittlungsbehörde behauptet, dass Sawtschenko im Juni als ein Mitglied des Bataillons Aidar den Verbleib einer Gruppe von Journalisten von TV-Rossija und anderer Zivilisten außerhalb von Luhansk in Erfahrung gebracht habe und diese Informationen an Kämpfer weitergegeben habe, die die TV-Rossija-Mitarbeiter Igor Korneljuk und Anton Woloschin bei einem Mörserangriff getötet hätten.
Sie behaupten auch, dass Sawtschenko die Grenze zu Russland ohne Dokumente überquert habe, wobei sie vorgegeben habe, ein Flüchtling zu sein. Sie behaupten, dass sie zunächst festgenommen wurde, um ihre Identität festzustellen.
Diese Version der Geschichte wird von Sawtschenko mit Nachdruck abgestritten, sie selbst sagt aus, sie sei gewaltsam mit einem Sack über dem Kopf und in Handschellen über die Grenze transportiert worden. Die Version der russischen Ermittler ist insgesamt total unglaubwürdig. Mehr Einzelheiten über die Falschinformationen in diesem Fall und die Mitwirkung von russischen Fernsehjournalisten bei der Vertuschung des Sachverhalts hier: Das russische Fernsehen hilft der Staatsanwaltschaft im Fall von Nadja Sawtschenko.
Die Verteidigung hat überzeugendes Beweismaterial dafür vorgelegt, dass Sawtschenko bereits gefangen genommen worden war, bevor die russischen Journalisten getötet wurden. Weder dies noch die Unstimmigkeiten in den von den Ermittlungsbehörden präsentierten Sachverhalten hatten eine Auswirkung auf die Gerichtsentscheidung, und es scheint sehr wahrscheinlich, dass einfach ein von oben verlangtes Urteil gesprochen wurde. Der politische Charakter der Inhaftierung und des Gerichtsverfahren wird sehr deutlich durch die richterliche Anordnung vom 3. Juli (und aus den Akten der Ermittlungsbehörden). Diese Anordnung bezeichnet die Region Donbas in der Ukraine als Donezker und Luhansker Volksrepubliken.
Nadija Sawtschenko wurde vor kurzem in der Ukraine auf dem ersten Listenplatz in der Liste von Julija Tymoschenko für die kommenden Parlamentswahlen eingetragen. Diese Kandidatur geschah scheinbar mit Sawtschenkos Zustimmung und hat zu Protesten von russischen Abgeordneten geführt.
Russland hat gegenwärtig insgesamt fünf ukrainische Staatsangehörige entführt und und hält eine weitere Person aus höchst verdächtigen Gründen in Haft. Oleg Senzow, Oleksandr Koltschenko, Gennady Afanasjew und Oleksy Tschirny stammen alle von der Krim und waren alle aktiv gegen die Annexion ihrer Heimat durch Russland. Sie wurden zu verschiedenen Zeitpunkten im Mai festgenommen, und nach Verhören – Berichten zufolge unter Anwendung von Folter – wurden sie nach Moskau verbracht, wo gegen sie weit hergeholte Anklagen als “Terroristen” erhoben wurden. (Einzelheiten zu ihren Verfahren hier)
Jurij Jatzenko, ein kurz vor dem Examen stehender Jurastudent aus Lwiw (Lemberg), wird seit Mai in der [russischen] Region Kursk in Haft gehalten. Zunächst befand er sich mit einem weiteren Ukrainer namens Bohdan Jarytschewskij in Abschiebehaft, jedoch wurde seine Abschiebung nicht mit Eile betrieben. Im August erhoben die russischen Behörden plötzlich Anklage wegen ebenso zweifelhaften Vorwürfen des “Schmuggels von Sprengstoff” und sie ordneten die Untersuchungshaft an. (Einzelheiten zu dem Verfahren hier)