Eine Frau am Freitag, 18. Juli 2014 am Absturzort des Passagierflugzeugs der Malaysia Airlines in der Nähe des Dorfes Rozsypne, Ost-Ukraine. Rettungskräfte, Polizisten und sogar Bergleute durchkämmen eine ausgedehnte Fläche im Osten der Ukraine nahe der russischen Grenze, wo das malaysische Flugzeug in brennenden Einzelteilen am Donnerstag zu Boden kam, wobei alle 298 Insassen an Bord getötet wurden. (AP-Foto / Dmitry Lovetsky)
Der Absturz der MH17 ist das Ende der russischen Märchen
von Anne Applebaum, The Washington Post, 18. Juli 2014 (Übersetzung)
Bevor es eine weitere Diskussion des Malaysia-Airlines-Flugs MH17 gibt, ist es wichtig, sich einen Punkt absolut klar zu machen: Dieser Flugzeugabsturz ist das Ergebnis der russischen Invasion der Ostukraine, eine bewusst so gestaltete Operation, um ein rechtliches, politisches und militärisches Chaos zu schaffen. Ohne dieses Chaos wäre keine Boden-Luft-Rakete auf ein Passagierflugzeug geschossen worden.
Von Anfang an schickte die russische Regierung keine regulären Soldaten in die Ukraine. Statt dessen schickte sie russische Söldner und Agenten des Sicherheitsdiensts wie Igor Strelkow – der Oberbefehlshaber in Donezk und russischer Oberst der Geheimpolizei, der in beiden Tschetschenien-Kriegen beteiligt war – oder Wladimir Antjufejew, der Donezker “stellvertretende Ministerpräsident”, der den Versuch des lettischen KGB anführte, mit dem die unabhängige lettische Regierung im Jahr 1991 wieder gestürzt werden sollte.
Mit Hilfe lokaler Schläger belagerten diese russischen Sicherheitsleute Polizeistationen, Regierungsgebäude und andere Symbole der politischen Macht, um den ukrainischen Staat zu delegitimieren. In dieser Aufgabe wurden sie von der russischen Regierung und den vom russischen Staat kontrollierten Massenmedien unterstützt, die beide immer noch kontinuierlich die Ukraine und ihre “Nazi”-Regierung verunglimpfen. Gerade in der vergangenen Woche erreichte die russische Berichterstattung über die Ukraine einen neuen Höhepunkt der Hysterie – mit gefälschten Geschichten über eine angebliche Kreuzigung eines Kinds und einem außergewöhnlichen Dokumentarfilm, der in einem Vergleich die Verteidigung des eigenen Landes seitens der ukrainischen Armee mit dem Völkermord in Ruanda gleichsetzte.
In dieser mehrdeutigen und instabilen Situation haben die Russen zynisch einen Strom von schweren Waffen wie Maschinengewehren und Artillerie, Panzern und schließlich Panzerwagen und Flugabwehrraketen eingeschleust. In den letzten Tagen benutzten die separatistischen Kräfte ganz offen tragbare Luftabwehrsysteme (MANPADS) und rühmten sich, große ukrainische Transportflugzeuge abgeschossen zu haben, ganz klar mit russischer fachkundiger Unterstützung. Und in der Tat prahlte Strelkow am Donnerstag Nachmittag Berichten zufolge in einem Onlineposting, eine weitere Militärmaschine abgeschossen zu haben, bevor er merkte, dass es sich bei dem Flugzeug um die MH17 handelte. Der Beitrag wurde entfernt. Ende Juni veröffentlichten mehrere russische Medienquellen Fotografien von Buk-Flugabwehrraketen, die angeblich von den Separatisten erbeutet worden waren – obwohl sie wahrscheinlich Geschenke direkt aus Russland waren. Diese Stellen wurden ebenfalls entfernt.
Dies ist der Kontext, in dem eine Boden-Luft-Rakete auf ein Passagierflugzeug zielte: Ein rechtsfreier Raum; irreguläre Soldaten, die vielleicht im Lesen von Radar nicht so gut geübt sind; eine nihilistische Missachtung menschlichen Lebens; Verachtung internationaler Normen, Regeln oder Stadards. Nur für das Protokoll: Es gab keine von der ukrainische Regierung kontrollierten Flugabwehrraketen im Osten der Ukraine, weil die Separatisten gar nicht über Flugzeuge verfügen.
Bis jetzt waren diese unorthodoxen Methoden ein Plus für die Russen. Sie verunsicherten die ukrainische Regierung und lenkten sie ab, und sie ermöglichten es so ausländischen Regierungen – und dabei vor allem den europäischen Regierungen, ein Auge zuzudrücken. Weil der Krieg kein “echter” Krieg war, konnte man ihn als “lokal”, als “beherrschbar” abtun, und er konnte für die europäische Außenpolitik oder auch für die Außenpolitik anderer bei geringer Priorität bleiben.
Auch wenn dadurch nichts anderes bewirkt wurde, hat der Absturz von Flug 17 nun den Märchen von wegen “es ist kein echter Krieg” ein Ende gesetzt, sowohl für die Russen als auch für den Westen. Tragischerweise hat dieser unkonventionelle Nicht-Krieg gerade 298 Menschen getötet, überwiegend Europäer. Wir können nicht so tun, als ob nichts passiert sei oder dass es außerhalb von Donezk niemanden treffen könnte. Die Russen können jetzt auch nicht mehr so tun als ob.
Ohne den Vorwand des Märchens werden jetzt einige Dinge klarer. Zum einen werden wir jetzt bald erfahren, ob der Westen im Jahr 2014 genauso geeint und entschlossen ist, den Terrorismus zu stoppen, wie es vor 26 Jahren der Fall war. Als die libysche Regierung im Jahr 1988 den Pan-Am-Flug 103 über Lockerbie in Schottland zum Absturz brachte, schloss der Westen die Reihen und isolierte das libysche Regime. Können wir jetzt das Gleiche zu tun – oder werden zu viele versucht sein, dies als “tragischen Unfall” anzusehen und eine unweigerlich mit umstrittenem Ergebnis endende Untersuchung als “nicht schlüssig” zu verwerfen? Es ist nicht ausreichend, wenn Präsident Obama jetzt erklärt, es müsse einen “Waffenstillstand” in der Ukraine geben. Was nötig ist, ist der Abzug der russischen Söldner, Waffen und technischer Unterstützung. Der Westen – und die Welt – müssen sich dafür einsetzen, dass im Osten der Ukraine die ukrainische Staatssouveränität wieder hergestellt wird, und nicht für den Fortbestand eines weiteren eingefrorenen Konflikts.
Wir werden aber auch etwas Interessantes über den russischen Präsidenten erfahren. Bisher gibt es keine Anzeichen von Schock oder Beschämung in Russland. Aber in Wahrheit bietet diese Tragödie Wladimir Putin die Möglichkeit, sich aus der chaotischen Katastrophe, die er im Osten der Ukraine angerichtet hat, herauszukommen. Er hat jetzt die perfekte Ausrede, die Separatistenbewegung zu verurteilen und ihre Versorgung einzustellen. Wenn er sich aber weigert, dann wissen wir, dass er dem von ihm in Donezk hererstellten Chaos und Nihilismus zutiefst anhängt. Wir können annehmen, dass er dies dann anderswo zu verewigen beabsichtigt. Und wenn wir nicht bereit sind, das zu bekämpfen, sollten wir darauf gefasst sein, dass es sich ausweitet.
Anne Applebaum schreibt zweiwöchentlich eine außenpolitische Kolumne für die Washington Post. Sie ist Direktorin des Global Transition-Programms am Legatum Institute in London.