Von Carol Matlack, Bloomberg Businessweek, 23. Mai 2014 (Übersetzung)
Wladimir Putin scheint seine Tonart zu ändern. In seiner Rede beim internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg sagte der russische Präsident, er erkenne “den Willen des ukrainischen Volkes” bei der Präsidentenwahl des Landes am 25. Mai an und werde “mit den neuen gewählten Institutionen” in Kyiw zusammenarbeiten.
Und heute gab die russische Armee bekannt, sie habe begonnen, Truppen aus dem Grenzgebiet zur Ukraine zurückzuziehen, wie Putin dies wiederholt versprochen hat. Ein US-Verteidigungsbeamter sagte gegenüber CNN am 21. Mai, dass es Beweise dafür gebe, dass “die Truppen zusammenpacken,” obwohl er hinzufügt, “es hat sich noch nichts bewegt”.
Putins scheinbar versöhnliche Rhetorik kontrastiert mit seiner früheren Weigerung, die ukrainischen Wahlen als legitim zu akzeptieren. Andere in der russischen Regierung lassen jedoch weiterhin die harte Linie anklingen. Außenminister Sergej Lawrow sagte heute früh, dass Russland bis nach der Abstimmung am 25. Mai und der möglichen Stichwahl abwarten werde, bevor es entscheidet, ob es die Sieger anerkennen werde. Und Walerij Gerassimow, der Leiter des Generalstabs des russischen Militärs, sagte auf einer Konferenz in Moskau heute, dass für den Fall, wenn die NATO ihre militärische Präsenz in den an Russland angrenzenden Ländern ausbaut, “wir Maßnahmen in Reaktion darauf ergreifen müssen”.
Was hat Putin jetzt vor? Hier sind vier mögliche Interpretationen:
1. Er blufft, um Zeit zu schinden.
Putins Äußerungen sollten anscheinend die Finanzmärkte beruhigen, da der Rubel gestärkt wurde und die russischen Aktien zulegten, nachdem er in St. Petersburg gesprochen hatte. Er könnte damit auch versuchen, Zwietracht zwischen den USA und Europa zu säen, das in einem Handelskrieg mit Russland weit mehr als die USA zu verlieren hat. Putins offensichtliche Bereitschaft, das ukrainische Wahlergebnis zu akzeptieren, könnte den Europäern als gutes Argument für den Verzicht auf weitere Sanktionen dienen. “Putin will vor den Wahlen vernünftig erscheinen, um so weiteren westlichen Sanktionen zuvorzukommen”, sagt der auf aufstrebende Märkte spezialisierte Wirtschaftswissenschaftler Timothy Ash von der Standard Bank in London. Er fügt jedoch hinzu: “Die Taktik könnte sich ändern, aber die strategischen Ziele sind die gleichen. Inzwischen schüren pro-russische Truppen weiterhin Chaos vor Ort.” Und tatsächlich haben die ukrainischen Streitkräfte am 22. Mai ihren schlimmsten Tag der Verluste durch die pro-russischen Separatisten erlitten, als bei einem Angriff von Rebellen auf eine Straßensperre in der Nähe von Donezk 16 Soldaten starben.
2. Die Sanktionen treffen Russland härter als erwartet.
Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew sagte gegenüber Bloomberg Television in St. Petersburg, dass er zuversichtlich sei, dass Russland nicht mit härteren Sanktionen für gesamte Branchen getroffen werden sollte. Solche Strafen seien “wie Atomwaffen, denn niemand nutzt sie”. Aber es ist klar, dass die bereits verhängten begrenzten Sanktionen Wirkung zeigen. Putin räumte beim St. Petersburger Forum ein, dass einige seiner Freunde Schaden erlitten hätten, nachdem sie und ihre Unternehmen mit Sanktionen belegt worden waren. Viele westliche Unternehmenschefs blieben unter dem Druck ihrer Regierungen dem St. Petersburger Forum fern. Es gibt auch die Gefahr, dass sich Visa und Mastercard, die 90% der Kreditkartentransaktionen in Russland abwickeln, aus dem Land zurückziehen könnten. Die Krise in der Ukraine und die Androhung von Sanktionen ist “ein schwerer Verlust für die russische Wirtschaft, die in eine Rezession zu rutschen scheint,” schrieben die in London ansässigen Ökonomen bei Capital Economics in einer Kundenbenachrichtigung.
3. Putin hat erkannt, dass seine Ukraine-Strategie nicht funktioniert hat, und er muss sich neu aufstellen.
Nach der schnellen Annexion der Krim ist Putin im Osten der Ukraine gestolpert, sagt Jörg Forbrig, Wirtschaftsberater beim deutschen Marshall-Fund in Berlin. “Er überschätzte den pro-russischen Impuls und überschätzte, wie viele den von ihm gesponserten Anhängern folgen. Es gelang ihm nicht, den Wahlprozess abzubrechen”. Die Ergebnisse der Volksabstimmungen von Separatisten im Osten der Ukraine von Anfang dieses Monats wurden weithin ignoriert, und Putin selbst schien sich von ihnen zu distanzieren. Putin hat auch dadurch einen Rückschlag hinnehmen müssen, dass einige führende ukrainische Oligarchen, die bisher die pro-russische Regierung des ehemaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch unterstützten, jetzt auf die neue Regierung in Kyiw setzen und im Kampf gegen die Separatisten helfen. “Das ist etwas, was Putin vermeiden wollte,” sagt Forbrig.
4. Putin glaubt, dass seine Strategie der Ukraine so gut ist, dass keine Notwendigkeit besteht, den Topf weiter am Kochen zu halten.
“Moskau hat das Ziel der festen Fixierung einer ‘roten Linie’, die in der post-sowjetischen Zeit gezogen wurde, sowie der dramatischen Verbesserung seines globalen Status,” meint Fjodor Lukjanow, Leiter des Moskauer Rats für Außen- und Verteidigungspolitik, in einem in diesem Monat in der Zeitschrift ‘Russia in Global Affairs’ veröffentlichten Artikel. Lukjanow, dessen Think Tank dem Kreml nahe steht, argumentiert, dass Putins Aktionen andere Nationen gezwungen habe, Russland als Weltmacht ernster zu nehmen. “Bis zu den Ereignissen in der Ukraine sahen die USA in Russland eine Ursache für Kopfschmerzen aber kein grundsätzliches Problem,” schreibt er. “Jetzt aber, auch wenn die USA Russland nicht als einen richtigen Rivalen ansehen, so müssen sie es zumindest in Betracht ziehen, dass das Land zu einem Anwärter für diese Rolle geworden ist.” Auch wenn die Sanktionen für Russland schmerzhaft sein können, meint Lukjanow, dass der Kreml diese Möglichkeit bereits in seine Entscheidungsfindung einbezogen habe. Und darüber hinaus, behauptet er, könnte die Einführung härterer Sanktionen für die westlichen Regierungen auch nach hinten losgehen. “Sie müssen sich selbst fragen, inwieweit sie sich auf die globalen Wirtschafts- und Kommunikationssysteme verlassen können, ob es so einfach ist, den Zugriff auf die von ihnen beherrschten Systeme abzuschalten, wenn es ihren eigenen Interessen widerspricht. Die Sanktionen gegen Russland könnten daher zu einer Fragmentierung der Finanz-und Kommunikationssysteme führen und der multipolaren Umstrukturierung der Welt weitere Impulse verleihen”.
Trotz seiner moderaten Rhetorik bleibt es nach wie vor Putins Ziel, die Instabilität in der Ukraine zu fördern und die Regierung in Kyiw zu untergraben, sagt Masha Lipman, Analystin beim Moskauer Carnegie-Zentrum, gegenüber Bloomberg News. “Russland will jede Möglichkeit vermeiden, dass die Ukraine sich in Richtung Normalität und der Westausrichtung bewegt,” sagt sie.
Matlack ist Paris-Korrespondentin für Bloomberg Businessweek
Quelle: http://www.businessweek.com/articles/2014-05-23/whats-putin-up-to-now-four-possible-explanations