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Alexandra Kuschel: In der U-Bahn-Station Maidan ausgestiegen

Alexandra Kuschel: In der U-Bahn-Station Maidan ausgestiegen

Sehr oft erinnere ich mich an eine Episode aus der Zeit auf dem Maidan. An einem der bangen Tage, als die Lebensgefahr über allen schwebte, die auf dem Maidan waren, wollte sich jemand mit mir auf dem Bahnsteig der U-Bahn-Station “Maidan Nesaleschnosti” [“Platz der Unabhängigkeit”] treffen. Das waren wirklich sehr beängstigende Tage – keiner von uns wusste, ob wir zurückkommen würden, wenn wir das Haus verließen, keiner wusste, ob wir nach einer Stunde noch am Leben sind oder was mit jedem von uns passieren würde.

Auf meinen Gesprächspartner wartend stand ich auf einem halb leeren U-Bahn-Bahnsteig, während schwer beladene, ja überfüllte Züge an dieser fast verlassenen Plattform ankamen. Die U-Bahn hält, öffnete die Türen, und aus dem Zug, aus jedem Waggon, stiegen 10 bis 20 Personen aus. Sie wollten auf den Maidan. Sie wussten, dass sie getötet werden könnten, aber sie gingen trotzdem. Der Rest – fuhr weiter. In die Wärme eines sicheren Zuhauses.

Ich erinnere mich an ein Ehepaar aus dem Zug. Ich sah sie zum ersten Mal am 2. Dezember [2013], als wir uns vor einer Kundgebung an der Ecke Gorki- und Tolstoi-Straße versammelten. Mittleren Alters, mit schlanken, intelligenten Gesichtern. Auf den ersten Blick gewöhnliche Kyiwer. Seit diesem Tag hielt in den Massen auf Maidan ich Ausschau nach ihnen, sie kamen immer abends nach der Arbeit. Ich erinnere mich auch an einen älteren Amerikaner, ursprünglich kommt er aus Kyiw,  bevor er aus der Sowjetunion in die USA ausgewandert war. Ich schrieb einmal über ihn auf Facebook. Aufgeweckt, mit einem mehrmals um den Hals gewickelten warmen Schal und ohne Hut stieg auch er aus dem Zug. Und ging auf den Maidan.

Ich frage mich, warum mein Gedächtnis die ganze Zeit immer wieder zu diesem Moment zurückkehrt? Wahrscheinlich, weil genau diese Menschen mit ihrer Furchtlosigkeit, ihrem brennenden Wunsch, das Land, ihre Würde zu ändern, in den Lauf der Geschichte der Ukraine eingegriffen haben.

Ich kann sehr gut verstehen, dass jetzt viele Menschen keine schlechten Nachrichten mehr hören wollen, sie schotten ihren Geist vor den Schrecken des Krieges ab, vor den Toten, vor dem Verrat. Müde, emotional ausgelaugt. Und ohne Ausnahme wollen alle den Frieden. Für viele ist nicht mehr wichtig, welcher Preis für den Frieden zu zahlen ist. Wenn sie nur aufhören würden zu töten, wenn sie nur nicht mehr hören müssten, wie viele Menschen über Nacht gestorben sind, wenn sie nur nicht mehr zusehen müssten, wie diejenigen begraben werden, die keine Angst hatten. Diejenigen, die an einem einsamen Bahnsteig aus dem Zug gestiegen waren. Wir haben schon die Weihnachtsbäume in die Schaufenster gestellt und versuchen, so zu tun, als ob alles gut sei im Land.

Wir sind nicht aus dem Zug ausgestiegen.

Mit aller Kraft, klammern wir uns an die trüben Versprechungen: eine Runde Wahlen – und das Ende des Krieges. Was für eine Täuschung! Aber wir wünschen uns so sehr, dass dies alles zu Ende ist, damit überall die festlichen Weihnachtsbaumlichter fröhlich glänzen können! Jetzt gibt es ein neues Versprechen: eine Mehrheit im Parlament und die Ausweitung der Machtbefugnisse des Präsidenten, wie es vor Janukowytsch war, als Garantie für das Ende des Krieges … Wir verstehen ja, dass sie uns täuschen – aber wir haben keine Kraft mehr, wir wollen betrogen werden – um irgendjemandem zumindest für eine kurze Zeit glauben zu können.

Wir treten ein in die Illusion von Wohlstand, die uns auf Wahlplakaten in einem überfüllten Waggon der betrogenen Hoffnungen versprochen wird.

Aber vielleicht sollten wir auch aussteigen und mit denen gehen mitgehen, die der Furcht nicht erlegen sind und beschlossen haben zu kämpfen –  ohne falsches Heldentum, auf ganz gewöhnliche und aufgeklärte Art und Weise? Für die Freiheit. Für die Zukunft unserer Kinder. Für den Sieg. Für das Recht, Ukrainer zu sein. Für das Recht, zu denken und die Gedanken zu äußern. Für eine ehrliche Regierung, die ihrem Volk dient.

Ich weiß, ich weiß es definitiv, dass Gottes Segen auf dem ukrainischen Volk liegt. Den Menschen, nicht den Machthabern. Und Gott schickt nie eine Versuchung, die ein Mensch nicht überwinden kann. Oder ein Land. Dass in diesen Prüfungen eine Nation geboren wird, in der immer das Nötige vorhanden sein wird, um die Machthaber dazu zu zwingen, ihr zu dienen.

In der Nacht vom 10. auf den 11. Dezember [2013], als ein Fluss schwarzbehelmter Berkut-Bereitschaftspolizisten unablässig von Petschersk langsam von allen Seiten in Richtung Maidan herunterströmte, und als es danach aussah, dass wir alle vernichtet werden, standen wir alle im Gebet da. Vorn auf der Bühne betete ein Priester, die Frauen sprachen Worte des Gebets durch ihre Tränen in der Nähe der Bühne auf dem Maidan. Um die Angst und die  Benommenheit zu überwinden, betete man in jedem ukrainischen Haus, wo die Menschen die ganze Nacht über die Life-Übertragung vom Maidan verfolgten. Ich rief in der St. Michaelskathedrale an und bat darum, die Glocken zu läuten. Mit dem ersten Glockenschlag hielten die Berkut an. Es war ein Wunder, das schwer zu glauben war. Aber es ist passiert. Gott schenkte seine Gnade den Menschen. Zu der Zeit gab es eine Macht auf dem Maidan – die Macht des Volkes. Und Gott sorgt für die Sicherheit des ukrainischen Volks. Nicht die Regierung. Eine Regierung, die ihren Menschen nicht dient, ist keine Regierung. Sie wird niemals eine Regierung sein.

Bitte, ich flehe alle diejenigen an, die den Glauben schon verloren haben. Alle, die müde sind. All jene, die aufgehört haben zu glauben. All diejenigen, die nicht aus dem Zug ausgestiegen sind. Bitte gebt nicht auf! Bitte hört nicht auf zu kämpfen. Um eurer Kinder willen. Im Namen der Helden der Himmelshundertschaft [Anm. d. Übers.: Bezeichnung für die während der Maidan-Proteste getöteten Opfer], die uns von hoch oben schützen. Gebt nicht auf, kämpft, kämpft, wie unsere Helden das heute tun, auf dem Flughafen von Donezk, wie die Helden der ATO [Antiterroroperation], wie Zehntausende von engagierten Freiwilligen, die nach wie vor für die Ukraine kämpfen. Kämpft!

Wir sind uns sicher, wir werden gewinnen! Wir müssen nur auf einem Bahnsteig, der immer noch halb leer ist, aus dem Zug aussteigen. Und denken Sie daran, dass wir schon gewonnen haben, gegen Janukowytsch. Daher werden wir jetzt auch in der Lage sein zu gewinnen. Gegen die Korruption und die korrupten Richter, gegen die Bürokraten, die durch ihre kriminelle Machenschaften das ganze Land in den Würgegriff genommen haben, gegen die Generäle ohne Gewissen und ohne Gott in ihrem Herzen, gegen die Feiglinge und Opportunisten, gegen die Diebe in der Verwaltung und ihre grenzenlose Gier.

Wir werden in der Lage sein, auch die Enttäuschung und die Müdigkeit und den Mangel an Glauben zu besiegen.

Die Ukraine wird gewinnen.

kuschelVon Alexandra Kuschel (Facebook) 12.10.2014
englische Fassung: Voices of Ukraine
Übersetzung: Euromaidan Press auf Deutsch

Alexandra Kuschel (ukrainisch Oleksandra Kuschel – Кужель Олександра Володимирівна) ist Abgeordnete in der Batkiwschtschyna-Fraktion in der Werchowna Rada (Parlament).

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