von John Besemeres, insidestory.org.au; Übersetzung von Teil 1 und Teil 2 hier.
Wieso also sind westliche Kommentatoren so unverhältnismäßig auf die pro-Kyiw-Bösewichte fixiert? Es kann ja sein, dass die ukrainischen “Bösewichte” eine Bedrohung für die vor Ort im Donbas befindlichen russischen Feinde darstellen, aber doch nicht für die reguläre russische Armee, im Gegenteil, die russische Armee kann ihnen großen Schaden zufügen und hat es auch schon getan. Noch viel weniger bedrohen sie die Länder im Westen, dessen Berichterstatter sich mit geschärfer Aufmerksamkeit auf sie fokussiert haben. Die kompromisslosen national-konservativen Bürgerwehren und ihre Verbündeten liegen bei öffentlichen Meinungsumfragen weit hinter Poroschenko zurück. Lediglich falls Russland fortfährt, der gewählten Regierung in Kyiw Niederlagen zuzufügen, weiter alles kaputt schießt und den Handelskrieg fortsetzt, während der Westen missbilligend zuschaut, ohne jedoch etwas dagegen zu unternehmen – nur dann könnten diese kompromissloseren pro-ukrainischen Kräfte zu einer ernsthaften Herausforderung werden.
Im Unterschied zu Gruppen wie dem Battalion Asow werden die eindrucksvollen Bösewichte unter den russischen militärischen Invasoren und deren einheimische Anhänger viel zu wenig einer Überprüfung durch die Medien unterzogen. Nehmen wir z.B. Igor Girkin (alias Strelkow), ein Russe aus Russland, ehemaliger Oberboss der selbsternannten Donezker Volksrepublik, ein Name, der förmlich nach Stalinismus riecht. Es gibt Berichte, denen zufolge Strelkow in seiner langen Karriere als Glücksritter, in der er die russische imperiale Sache in einem äußerst expansiven Sinne betrieb, bei den bosnisch-serbischen Kräften an ethnischen Säuberungen muslimischer Bosnier während der Jugoslawienkriege beteiligt war. Er ist zweifellos ein russischer Faschist, aber auch ein nostalgischer Stalinist, und somit einer der Mischsorte von Mensch, die momentan in Russland sehr verbreitet ist.
Dann gibt es noch den ehemals kriminellen Russen Sergej Axjonow, der die Krim wieder in den Kommunismus zurückführt, er wird ebenfalls von den meisten Leuten im Westen übersehen. Oder nehmen wir Aleksandr Borodaj, ebenfalls ein Russe aus Russland, der wie durch ein Wunder zum Oberboss von Donezk wurde und solange dort blieb, bis Moskau es für nötig erachtete, ihn gegen einen Ortsansässigen auszuwechseln: Aleksandr Sachartschenko, einem echt-roten Anhänger des Moskauer Regimes aber mit einem brauchbaren ukrainisch klingenden Nachnamen. Und, was wahrscheinlich noch am wichtigsten ist, es gibt Wladimir Antjufejew, die graue Eminenz von Transnistrien, und jetzt seit kurzem von der Ostukraine. Wieso ist niemand so richtig über ihr Auftreten entsetzt?
Abgesehen von den überwältigend schweren Lasten des Landes schafften es die ukrainischen Kräfte während mehreren Monaten, ihrem Ziel näherzukommen, die Städte Donezk und Luhansk einzukreisen und sie vom Nachschub über die russische Grenze abzuschneiden. Moskau reagierte daraufhin mit Lieferungen von noch mehr Hightech-Waffen und mit dem Auswechseln ihrer Stellvertreteter. Dies führte zu einigen spektakulären Siegen der Russen in einzelnen Schlachten an der Front wie auch zu rapide zunehmenden Abschüssen von ukrainischen Flugzeugen. Aber es führte ebenfalls zum MH17-Unglück, welches offensichtlich kein Triumph für Moskau war. Bis August und trotz der erfolgreichen Wellen russischer Einmischung schien es, als ob Kyiws Fortschritte in der Aufstandsbekämpfung sich halten konnten.
Plötzlich wendete sich das Kriegsglück um 180 Grad. Russland schleuste eine große Anzahl seiner regulären Truppen in die Ukraine ein, wahrscheinlich gegen 6000 Mann, inklusive Sondereinsatztruppen und mit noch mehr Hightech-Waffen. Schlagartig, und völlig gegen den bisherigen Verlauf, konnten die belagerten “Rebellen” ihre zunehmend schlimmer gewordene Situation wenden. Die Belagerung von Donezk wurde durchbrochen, und die vielen, hauptsächlich freiwilligen, pro-Kyiw-Einheiten, die sich bei der strategisch wichtigen Stadt Ilowajsk aufgehalten hatten, waren gezwungen, den Rückzug anzutreten. Während des Rückzugs, den sie anscheinend in Reaktion auf eine Einladung in einem “humanitären” Korridor unternahmen, wurden sie von russischen Kräften mit sehr überlegenen Waffen aus dem Hinterhalt angegriffen, was zu einem Massaker von Hunderten von Männern und zur totalen Zerstörung ihrer Waffen und Militärfahrzeuge führte.
Die westlichen Länder, Amnesty International und andere Stellen sagen übereinstimmend, dass diese Kehrtwendung das Resultat einer heimlichen, aber großangelegten Entsendung russischer Truppen und Rüstungsgütern über die Grenze war. Russische Internetquellen und die wenig noch verbliebenen unabhängigen russischen Medien und Blogs erkennen in der rapode angestiegenen russischen Beteiligung den Grund für den plötzlichen Sieg der “Rebellen”. Das Komitee der Soldatenmütter Russlands, eine der wenigen politisch engagierten NGOs, die immer noch wirksam arbeitet, hat behauptet, dass an die 200 Soldaten von regulären Truppenteilen während der Kämpfen in der Ukraine ums Leben gekommen sind. Für diese (den russischen Interessen schädliche) Behauptung wurde die St. Petersburger Abteilung der NGO vom Regime als “ausländischer Agent” denunziert (vom stalinistischen “Spion” oder “Verräter” der 1930er Jahre abgewandelt).
Es war vorauszusehen, dass der instabile Waffenstillstand nicht eingehalten werden würde, den besonders die russische Seite immer wieder gebrochen hat, um die Kontrolle über den Donezker Flughafen und andere strategische Angriffsziele wieder zu erlangen. Poroschenkos Bemühen, den Waffenstillstand mit weiteren Zugeständnissen für die “Separatisten” stabiler zu machen, konnte Kyiw nur eine kleine Atempause verschaffen. Die einzige Sache, die eine gewisse Stabilität herbeiführen könnte, wäre ein erneuter Verzicht auf die ukrainische Souveränität, die Anerkennung der “Rebellen” als eine legitime ukrainische Kraft, die das einheimische Volk vertritt (was sie nie taten – ihre Referenden waren eine Farce), und das Akzeptieren, dass Russland der Hauptgarant für die Stabilität in der Region zuständig wäre; mit anderen Worten gesagt, müsste man nebst dem Verlust der Krim auch noch akzeptieren, dass die Ukraine einen riesigen eingefrorenen Konflikt in ihrer Kernindustrieregion bekommt.
Und damit wäre es fast ganz sicher noch nicht zu Ende, wie wir nach den Erfahrungen eingefrorener Konflikte in anderen post-sowjetischen Regionen wissen. Die entsprechenden Teile Moldawiens und Georgiens wurden als Druckmittel eingesetzt, um jegliche westwärtsgerichtete Bewegungen in diesen Ländern zu stoppen. Ein eingefrorener Konflikt kann auch, wenn der Bedarf und/oder die Gelegenheit sich bietet, schnell “aufgetaut” werden, um wie in Piemont einen ausgedehnteren irredentistischen Vorstoß zu wagen. Georgien war ein klassisches Beispiel hierfür, und Moldawien könnte bald der nächste Fall werden.
Russlands häufiger Gebrauch des Vetorechts, um Druck auf die OSZE auszuüben und eine effektive Einmischung des Westens und der OSZE in den eingefrorenen Konflikten zu verhindern, haben dazu geführt, dass die OSZE jetzt sehr empfindlich auf Russlands Prioritäten reagiert. Deutschland und Frankreich, die beiden Länder in der EU/NATO, die Russlands Sicherheitsansprüche am besten zu verstehen scheinen, waren mit eher bescheidenem Engagement am Kontaktgruppen-Prozess beteiligt, sie waren hauptsächlich dafür zuständig, die Ukraine zum Nachgeben zu drängen. Großbritannien und die Vereinigten Staaten sind an diesem Prozess nicht beteiligt. Dadurch ist Berlins Vorgehen als Russlandversteher praktisch konkurrenzlos. Die Kontaktgruppe wird von der Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini angeführt, die einen Bericht über den georgischen Krieg von 2008 verfasst hat, der, in den Augen einiger Beobachter, dazu tendiert, Russlands Verantwortung für dieses Ereignis und die erhebliche Zerstörung Georgiens, schönzureden.
Und in diesem wenig erfolgversprechenden Kontext der OSZE-Mission – da ihr Situationen, in denen Gewalt angewandt wurde oder werden könnte, nicht behaglich sind – versucht Deutschland eine friedliche Lösung zu finden und ist glücklich, die Vermittleraufgabe zwischen Angreifer und Opfer der OSZE anvertrauen zu können. Kyiw jedoch ist dabei eindeutig unterrepräsentiert. Einmal brachte die Gruppe zu den Gesprächen sogar den Separatisten Wiktor Medwetschuk als Teilnehmer mit. Medwetschuk ist ein guter Freund Putins und gehört zu den wichtigsten pro-Moskau-Politikern in der Ukraine. In der Ukraine wird er vom Volk kaum unterstützt.
Putins neustes Ziel ist es, wie bereits im Mai, zu zeigen, dass Russland ein beunruhigter und friedliebender Beobachter ist, während es zeitgleich Verstärkung auf das Schlachtfeld einschleust. Das Zeitpunkt seines pöauschalen Friedensangebots (das Berichten zufolge auf einem Flug in die Mongolei entworfen wurde) wurde wohl auch deswegen so gewählt, um die führungslosen und unentschlossenen westlichen Regierungen zu schwächen und noch weiter zu spalten. Die NATO hielt damals (4. – 5. September) gerade einen äußerst wichtigen Gipfel in Wales ab, und die Europäische Union bemühte sich um eine Einigung über eine weitere Sanktionsrunde.
Auch Brüssel hat rätselhafterweise das Inkrafttreten des Freihandelsabkommens mit der Ukraine auf Ende 2015 verschoben, obschon zuvor einem beschleunigten Abstimmungsverfahren zugestimmt worden war. Der Grund für diese zusätzliche und unerwartete Belohnung für Russlands schlechtes Benehmen war anscheinend, weitere erschöpfende Diskussionen zu ermöglichen, die darauf hinzielen, russischen Einwänden hinsichtlich des Freihandelsabkommens entgegenzukommen. Moskau verlangt, dass so gut wie ein Viertel des mühsam ausgehandelten und umfangreichen Abkommens neu gefasst wird.
Die Europäische Union hat früher behauptet, dass das Abkommen Russlands Handel nicht schädigen würde und dass es, generell gesehen, prinzipiell nicht erlaubt ist, dass sich dritte Parteien in Verhandlungen der EU mit anderen Ländern einmischen.
Nichtsdestotrotz ist die Aufschiebung ein entmutigendes Signal für die Ukrainer und andere Länder, die unter Russlands Druck stehen. Ein stellvertretender ukrainischer Außenminister hat sein Amt über der Angelegenheit abgegeben, was sich nicht sehr beruhigend auf die Frage auswirkt, welche Hinterzimmerabmachungen es gab, um Poroschenkos Abkommen möglich zu machen. Die Vertagung ermutigt Russland ebenfalls, seine derzeitige aggressive Haltung gegenüber seinen westlichen Nachbarn und deren westlichen Freunden beizubehalten.
Die NATO ihrerseits hat unerschütterlich nochmals beteuert, dass sie dauerhaft keinen Stiefel auf die Gebiete der neuen Mitgliedsstaaten setzen werde sondern eine anderweitige “Absicherung” bieten werde. Die NATO hat ebenfalls bestätigt, dass sie der belagerten Kyiwer Regierung keine weiteren Waffen zur Verfügung stellen wird. Auf der anderen Seite hat sie sich dazu verpflichtet, nicht aus Waffen bestehende Hilfslieferungen im Wert von 20 Mio. US-Dollar zur Verfügung zu stellen. Nachträglich hat der ukrainische Verteidigungsminister behauptet, dass einzelne NATO-Mitgliedsstaaten sich bereit erklärt hatten, der Ukraine Waffen zur Verfügung zu stellen. Die von ihm erwähnten Länder haben jedoch seine Aussage dementiert.
Auch ohne kraftvollen Eingriff seitens Russlands ist eine Handelskriegsvariante immer schnell zur Hand. Kürzlich hat Russland seine Gasexporte nach Polen stark reduziert. Damit hat es die Rückflussimporte gestoppt, die aus Polen und der Slowakei in die Ukraine geflossen sind, um die Durchflüsse durch die ukrainischen Pipelines zu ersetzen, die letzen Juni von Russland blockiert worden waren. Falls Poroschenko keine befriedigenden Ergebnisse bei den Friedensgesprächen erzielt, kann der wirtschaftliche Würgegriff auf die Ukraine verstärkt werden. Somit sind die wirtschaftlichen Erpressungen eine weitaus direktere und tödlichere Waffe, als irgendwelche westlichen Sanktionen, die bis jetzt gegen Russland ausgearbeitet wurden.
In der Zwischenzeit arbeitet Russland an den baltischen Staaten. Trotz Barack Obamas Besuch in Tallinn, wo er eine wohlklingende Rede abgeliefert hat – eine Genre, dass er beherrscht – hat Moskau eine Serie von aufeinander abgestimmten Provokationen gestartet. Dies hat zwei Tage nach Obamas Besuch mit der Entführung eines estnischen Antikorruptions-Beamten auf estnischem Boden angefangen, der dann fast umgehend im russischen Fernsehen als Spion präsentiert wurde.
Kurze Zeit später besuchte ein russischer Beamter aus Moskau, der für die “Menschenrechte” zuständig ist, Riga und hielt dort eine aggressive Rede, in der er den lettischen “Faschismus” verurteilte, Misshandlungen der russischen Minderheit unterstellte und die lettischen Russen dazu aufrief, ihren “kriegerischen Geist” zu zeigen. (In der Tat tun sie dies bereits; ein großer Anteil der lettischen Russen unterstützt die Annexion der Krim, und es heißt, dass einige von ihnen für die Kämpfe in der Ukraine rekrutiert wurden.) In Anbetracht der Gräueltaten, die von Moskau nach dem Molotow-Ribbentrop Pakt von 1939 gegen Balten verübt wurden, sind dies äußerst dreiste und bedrohliche Forderungen.
Die westliche Aufmerksamkeit wird wieder vermehrt von den sehr schweren Angelegenheiten im Mittleren Osten eingenommen, da wird es schwierig, einen optimistischen Ausblick für die Ukraine – oder für die Zukunft europäischer Werte in anderen post-sowjetischen Gebieten – vorherzusagen.
Quelle: insidestory.org.au
Übersetzt von: Nadia M. Venko
Redaktion: Übersetzerteam Euromaidan Press Deutsch