von Kirill Michailow, Euromaidan Press
Der Mythos von “Noworossija” (Neurussland) ist ein zentrales Thema im russischen Propagandakrieg und begleitet die Invasion der Ostukraine und die zahlreichen Versuche, die südöstlichen Regionen des Landes von Charkiw im Osten bis nach Odesa im Südwesten zu destabilisieren. Diese große Schneise der Ukraine, wie die erfundene Version der Geschichte lautet, war ursprünglich eine Domäne der Steppennomaden (einschließlich der grimmigen Krimtataren), wurde im 18. und 19. Jahrhundert von den Russen erobert und besiedelt und dann in den 1920er Jahren von der kommunistischen Regierung Wladimir Lenins an die neu gegründete Sowjetukraine “übergeben”. Dieser Mythos hat sich so tief eingegraben, bis hin zu dem Punkt, dass der separatistische Möchtegernstaat im Donbas sich offiziell “Föderativer Staat Neurussland” bezeichnet und seine “Gründerväter” Anspruch auf die gesamte historische Region erheben.
Dennoch stellen sich bei dieser Darstellung des Phänomens Noworossija eine Reihe von Problemen, die bereits Tausende von Ukrainern und eine nicht bezifferbare Zahl von Russen das Leben gekostet hat.
1. Ukrainer besiedelten Noworossija lange vor Russland
Nach likbez.org.ua (einem Gemeinschaftsprojekt von Wissenschaftlern aus dem Ukrainischen Institut für Nationales Gedenken und der Nationalen Akademie der Wissenschaften in Zusammenarbeit mit der Zeitung Prawda Ukrajinska, das nach Angaben von Ukraine Today die von der russischen Propaganda verbreiteten Mythen über die ukrainische Geschichte zu widerlegen beabsichtigt), begann die slawische Besiedlung der Gebiete der modernen Südostukraine im 16. Jahrhundert, als ukrainische Kosaken Burgen und Dörfer in Gebiet am Unterlauf des Dnipro errichteten. Danach wurden die krimtatarischen Gebiete nach dem Scheitern ukrainischer Rebellionen gegen die polnische und später russische Verwaltung zu Zufluchtsorten: Ukrainer flüchteten auch in die südlich der russischen Hetmanate gelegenen Gebiete, um dem Schicksal der Leibeigenschaft zu entgehen, dorthin kamen außerdem christliche Exilanten aus dem Osmanischen Reich und deutsche Kolonisten. Das ursprüngliche Gouverneursamt Noworossija wurde von der Verwaltung des russischen Zarenreichs im Jahre 1764 hauptsächlich in den Kosakengebieten eingerichtet, noch vor den russisch-türkischen Kriegen, die die russische Oberhoheit über den Rest der Region festigten. Ukrainische Schwarzmeer-Kosaken spielten eine entscheidende Rolle bei diesen russischen Kriegen, ihre Zahl wird mit bis zu 42.000 Menschen angegeben. Die neu gegründeten Kolonialstädte “Neurusslands”, auch der schnell wachsende Hafen von Odesa, wurden von ukrainischen Händen gebaut.
2. Die Bevölkerung von Noworossija ist seit jeher überwiegend ukrainischsprachig
Um den Mythos eines “russischsprachigen Südosten” zu widerlegen reichen vielleicht diese Bilder mit den Ergebnissen der Volkszählung im russischen Reich von 1897. Diese Volkszählung berücksichtigte nicht die ethnische Zugehörigkeit sondern nur die Sprache. Gemäß der damals vorherrschenden Theorie innerhalb der russischen Eliten wurden die russischen Menschen in Welikorossij (“Großrussen”, die man heute einfach “Russen” nennt), Bjelorussij (“Weißrussen”, heute Belarussen) und Malorossij (“Kleinrussen”, jetzt Ukrainer) aufgeteilt. Die Ergebnisse der Volkszählung zeigten, dass die ukrainische Sprache ungefähr auf dem Gebiet der heutigen Ukraine einschließlich Noworossija vorherrschend war, während Russisch eine Minderheitensprache in dieser Region war:
Gemäß der Volkszählung stellten die Ukrainer etwa 66% der ethnischen Zusammensetzung des Südostens, während die Russen zusammengenommen nur 20% ausmachten. Mehrere sowjetische Volkszählungen ergeben vergleichbare Zahlen (obwohl sie auf der ethnischen Zugehörigkeit und nicht auf der Sprache beruhten); die letzte Volkszählung von 2001 in der unabhängigen Ukraine ergab einen Wert von 67,8% Ukrainern, mit einem Anteil von 26,8% Russen.
Beachte sollte man aber, dass im Jahr 1897 die großen Städte in “Neurussland” eine mehrheitlich russischstämmigen Bevölkerungsanteil aufwiesen, was eine Folge der Russifizierungspolitik des russischen Reiches durch Urbanisierung und Bildung sowie der Einwanderung von Siedlern war, was sich aber nicht auf die ländlichen Gebiete erstreckte, wo die Mehrheit der Bevölkerung lebte. Diese beunruhigende Entwicklung hält bis heute an, derzeit ist beispielsweise an den Grundschulen auf der Krim der Unterricht in der ukrainischen Sprache verboten.
3. Während des Bürgerkrieges von 1917 bis 1922 sahen alle ukrainischen Regierungen Noworossija als Teil der Ukraine an
Das Russische Reich hatte keine ethnischen Verwaltungseinheiten (im Gegensatz zu der aus nationalen Republiken bestehenden UdSSR), so dass mit der Entstehung nationaler Bewegungen nach dem Sturz des Zaren im Jahr 1917 die Grenzziehung der sich bildenden Autonomen Gebiete bzw. unabhängigen Staaten schwierig war. Dies hat die “Noworossija”-Revisionisten dazu gebracht, es so zu erklären, dass die Bolschewiken “willkürlich eine Grenze im Südosten der Ukraine gezogen hätten, um die angeblich russischen Regionen der Ukraine einzuverleiben”. In der Realität jedoch hatten sowohl die frisch gebildete ukrainische Nationale Republik als auch der von Bolschewiken geführte Staat die ukrainische Grenze trotz einer Vielzahl von auf dem ukrainischen Territorium kurzlebigen “Republiken” und im vorherrschenden Chaos des Bürgerkriegs (vor allem im Donbas und Odesa) entlang ethnischer Grenzen festgelegt, wobei sie häufig nicht miteinander übereinstimmten, wer und wie man diese sich überlappenden und von beiden Seiten beanspruchten Gebiete regieren sollte.
Die Donezk-Kriwij Riher Sowjetrepublik [russ. Donezk-Kriwoj Roger Republik], welche Teile von Noworossija einschließlich des modernen Donbas beanspruchte, unterschied sich von der Ukraine eher aus ideologischen denn ethnischen Prinzipien und wurde, im Unterschied zu den modernen “Republiken” in der Ostukraine, nie vom Kreml unterstützt und dann auch zügig in die Sowjetukraine eingegliedert. Während Lenin die Ukraine unter bolschewistischer Kontrolle sehen wollte (was im Laufe der Jahre zu zahlreichen sowjetischen Gräueltaten in der Ukraine führte, von daher auch die häufige Stürze von Leninstatuen in jüngster Zeit), hat Lenin nie bestritten, dass Noworossija ukrainisches Territorium war.4. Der Südosten stimmte mit überwältigender Mehrheit für die Unabhängigkeit der Ukraine von der Sowjetunion
Im Jahre 1991 – also 70 Jahre nach dem Bürgerkrieg – und veranlasst durch einen gescheiterten Staatsstreich in Moskau, mit dem die Herrschaft der Kommunistischen Partei über die kollabierende UdSSR wieder hergestellt werden sollte, erklärte die ukrainische Regierung am 24. Juli die Unabhängigkeit – dieser Tag wird heute als der ukrainische Unabhängigkeitstag gefeiert. Am 1. Dezember des gleichen Jahres 1991 wurde diese Unabhängigkeitserklärung bei einer Volksabstimmung mit einer überwältigenden Mehrheit von 92% gebilligt (bei einer Wahlbeteiligung von 84%). Im Gegensatz zu vielen anderen ukrainischen Wahlen mit weit auseinander gehenden Resultaten gab es in allen Regionen des Landes eine Mehrheit für die Unabhängigkeit, selbst in Luhansk und Donezk waren 83% dafür (der niedrigste Wert in der Festland-Ukraine). Auch auf der russischsprachigen Krim war die Mehrheit für die Unabhängigkeit, wenn auch nur mit einem Vorsprung von mehreren Prozent (und bei einer Wahlbeteiligung von nur 60%).
Das war die historische Wahl des sogenannten “Noworossija”. Aber vor kurzem hatte es eine andere Entscheidung zu treffen.
5. Die prorussischen Proteste im Südosten sind nicht vergleichbar mit dem Euromaidan
Die russischen (und prorussischen) Medien neigen dazu, prorussischen Proteste in diesem Frühjahr, die im Südosten der Ukraine im Zuge des Sturzes von Präsident Janukowytsch aufgeflammt sind, als ein Spiegelbild der Euromaidan-Revolution in Kyiw darzustellen, die sie eher als Aufstand westukrainischer radikaler “Nazis” präsentieren. Während der erste Teil der Behauptung für die frühen Tage der Donezker und Luhansker Republiken einen minimalen Anteil an Wahrheit enthalten könnte (was sich allerdings beschränkt auf ihre Regionshauptstädte, in denen Barrikaden aus Autoreifen eher eine blinde Kopie der Maidan-Taktik waren), war die Situation in anderen Teilen des als “Noworossija” bezeichneten Gebiets eine völlig andere. Wie die Matthew Babiak von Euromaidan Press betonte, haben sich nirgendwo im Donbas mehr 10.000 Menschen an den Protesten beteiligt, was ja im Vergleich zu Kyiw erstaunlich niedrig ist, wo zu einem Zeitpunkt im letzten Dezember Hunderttausende Demonstranten teilnahmen. Es ist jedoch um so bemerkenswerter, dass in vielen Regionen die proukrainischen Proteste die prorussischen übertrafen, so z.B. in Städten wie Charkiw, Dnipropetrowsk und Odesa mit jeweils mehr als 10 000 Demonstrationsteilnehmern. Darüber hinaus ist es den prorusssischen Kräften zu keinem Zeitpunkt gelungen, Besetzungen [von Verwaltungsgebäuden] wie in Donezk und Luhansk [anderswo] durchzuhalten, und auch dort mussten schließlich russische Waffen, Söldner und Sondereinsatzkommandos eingreifen. Eine aktuelle unabhängige russische Meinungsumfrage hat ergeben, dass der Südosten der Ukraine immer noch nicht begierig darauf ist, sich den “Brüdern” in Russland anzuschließen – oder auch nur “Neurussland”. Für 43% der Befragten, war Noworossija, im besten Fall, ein fremder Begriff, 4% verstanden darunter einfach nur einen veralteten, historischen Begriff.
Wahrscheinlich wäre es besser für alle Beteiligten, wenn Noworossija genau das bleiben würde.
Autor: Kirill Michailow (Anti-Putin-Aktivist und Bürgerjournalist, der in Russland 2011-2012 an den weit verbreiteten Protesten teilnahm. Nach der Annexion der Krim verließ er Russland und begab sich in die Ukraine, seitdem ist als ehrenamtlicher Autor und Übersetzer tätig)
Quelle: Euromaidan Press
Übersetzung: Euromaidan Press auf Deutsch