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Donezker Vakuum

Donezker Vakuum

Artikel von Jekateryna Serhatzkowa, Ukrainska Prawda (Übersetzung)

“Ein Gebet für  die ‚DVR‘? Für den Sieg, hä?”  Der junge Bursche in einer ausgefransten Jacke und einem klösterlichen Hut sieht aus, als ob er grade aus einem Film über Iwan den Schrecklichen herausgestiegen wäre. Er nimmt einen 20-Hrywnia-Schein von einer Passagierin im Bus nach Donezk. Die Frau nickt schüchtern. Die Augen des Jungen leuchten, als er die Worte ‚DVR’ [Donezker Volksrepublik] ausspricht.

“Wenn du willst, zünde ich sogar Kerze für dich an und spreche ein Gebet. Das ist 50 wert“ fügt er hinzu, aber die Frau weigert sich, und der Bursche springt aus dem Bus.

Heimatvertriebene Flüchtlinge beginnen nach Hause zurückzukehren. Der Minsker Waffenstillstand scheint zu funktionieren, gewissermaßen – es gibt lange Fahrzeugkolonnen auf der Fernstraße nach Donezk. Die Menschen kehren langsam in die Hauptstadt des Donbas zurück, trotz der Tatsache, dass diese Straßen regelmäßig beschossen werden.

So ragt zum Beispiel ein Geschoss aus einem Krater mitten auf der Straße nach Mariupol, nahe der ‚DVR’-Straßensperre.

Die Bombardements werden hier täglich fortgesetzt, ein bis zweimal pro Stunde, man hört Explosionen in verschiedenen Stadtteilen… manchmal von Grad-Raketen, dann wieder von Haubitzen und Mörsern.

Die Epizentren des Krieges haben sich nicht verändert – die am schlimmsten betroffenen Gebiete liegen nahe dem Flughafen und dem Bahnhof, es ist ein bisschen besser im Bezirk Petrowskij, an Marinka grenzend, wo die ukrainischen Truppen ihre Stellungen bezogen haben.

Der zehnjährige Kolja nimmt mich mit auf eine Tour durch den Luftschutzbunker im Bezirk Petrowskij.

“Hier lebt meine Familie, und wir essen hier.” Er zeigt auf einen winzigen Tisch, der mit Geschirr beladen ist. „Die Familien kochen zu Hause, es gibt kein Gas im Luftschutzbunker, und dann bringen sie das Essen hierher in den Keller. Es gibt auch keine Duschen oder Toiletten” fügt Kolja hinzu.

“Nun ja, wie lebst du?” frage ich, als ich versuche zu verstehen, wie irgendjemand auch nur einen einzigen Tag unter solchen Bedingungen verbringen kann.

“Wissen Sie, die Leute, die in der Nähe wohnen, gehen daheim aus Klo, und die anderen… Sie wissen das sehr gut… auf der Straße“, antwortet der Junge zögernd

Luftschutzraum
Luftschutzraum

Kolja lebt schon seit Juli im Luftschutzkeller. Das Heim der Familie war mitten im Zentrum der Bombardements; dann zog die Familie in eine andere Umgebung, aber die Bombardierungen begannen auch dort. Kolja geht nicht zur Schule… man kann nirgendwo hingehen.

Ziviler Schutzraum Waffen verboten
Ziviler Schutzraum Waffen verboten

Die zerstörte Schule liegt unweit dieses Schutzraumes. Geschosse trafen die Decke des Englisch-Unterrichtsraumes. Die Botschaft eines Kindes – gewollt oder nicht – steht mit Kreide geschrieben an der Tafel: „Danke vielmals! Donezk 2014.“

Der Schuldirektor hat sich nicht um seinen Luftschutzkeller gekümmert, daher sind die Verhältnisse hier entsetzlich. Der Keller ist kalt und feucht, alte Matratzen sind auf Holzpritschen ausgebreitet, es gibt keinen Strom.

Die einjährige Lisa schläft fest, Hände und Beine auf einer der Matratzen ausgespreizt, unbeirrt durch Lärm und Kälte.

Während sie schläft, raucht ihre Mutter, die dreißigjährige Sweta, auf der Straße eine Zigarette und hört den Freiwilligen von der „Verantwortungsvollen Bürgergruppe“ zu, die gerade mit humanitärer Hilfe angekommen sind.

Swetlanas Partner ist ein vierzigjähriger, zahnloser Mann mit dunkler, verwitterter Haut. Er arbeitete als Portier, wurde aber entlassen.

“Gehen Sie mit den Kindern nach Berdjansk. Dort können Sie zumindest den Winter verbringen“, sagen die Freiwilligen Sweta. Sweta denkt nicht lange nach, zuckt die Schultern und antwortet, dass das nicht nötig sein werde.

Sie ist nicht mit ihrem Partner amtlich registriert. Sie nahm ihren Pass auf das Sozialamt mit, kam aber unterwegs unter Beschuss. Sie verließ sofort ihr Heim und weiß jetzt nicht, wo ihre Dokumente sind… und zum Teufel mit den Dokumenten, sagt sie, zumindest lebt sie noch.

“Und was ist in Berdjansk? Dort sind die Nazis“, fügt Sweta hinzu. „Ich bleibe lieber in Donezk, es ist sicherer. Und wir haben so viel gehört darüber, dass die Leute dort niedergemetzelt werden und die Frauen vergewaltigt“ fährt sie mit düsterer Stimme fort. Tante Natascha nickt zustimmend.

Tante Natascha ist die älteste Bewohnerin des Luftschutzraumes. Sie ist für die humanitäre Hilfe zuständig, verteilt sie und löst verschiedene Probleme. Sie arbeitete als Buchhalterin. Viele ihrer Freunde sind „DVR-Aktivisten”.

Humanitäre Hilfe
Humanitäre Hilfe

“Jazenjuk schaut hässlich und widerlich aus, Awakow ist schwul und Poroschenko…“ Tante Natascha spuckt alles aus, was sie über Politiker weiß.

Sie braucht gerade einmal eine Sekunde, um über die Kiewer Regierungsbehörden loszulegen. Sie verkündet lauthals, dass „Nazi“-Kommandos regelmäßig mit Maschinengewehren nach Petrowka kämen und überall zu schießen begännen. Merkwürdigerweise seien die „Nazis“ in der Regel maskiert und in Zivil oder ‚DVR‘-Uniformen gekleidet.

Etwas später sehe ich eine Gruppe Soldaten in Uniformen der sogenannten „neurussischen Armee“. Sie fahren in einem Fahrzeug mit einem Anhänger, der einen Raketenwerfer zieht. Einige Minuten später landen zwei Granaten im Schulhof, genau dort, wo Tante Natascha vor ein paar Minuten gesessen war.

Einige Schutzräume haben keinen Strom, und es gibt keine Lebensmittel und kein Wasser. Oder sollte ich sagen, dass das Wasser in der Regensaison kniehoch steht, die Bevölkerung aber Mineralwasser zwischen den Bombardements im Geschäft kaufen muss. Ein Mann wurde am Kiewer Prospekt von einer Granate getötet, als er in ein Geschäft ging.

Die meisten Bewohnerinnen und Bewohner verlassen die Schutzräume untertags nicht. Sie wagen sich nur zum Luftschnappen spätnachts hinaus, wenn der Beschuss nachlässt.

‚DVR’-Kämpfer, die sich vor ein paar Monaten gebrüstet hatten, dass sie alle Luftschutzbunker geräumt und die Einheimischen mit allen Gütern des täglichen Lebens versorgt hätten, zeigen sich nicht mehr in der Gegend.

Die Menschen sind zurückgelassen worden, um ein düsteres, armseliges Leben zu fristen.

“Wenn es still ist, dann läuft normalerweise einer raus, um heißes Wasser zu holen“, sagt eine alte Frau leise. Sie ist eine der Dauerbewohnerinnen des Schutzraumes. Dann steht sie auf und beginnt zu schreien: „Wir werden hier bald sterben! Ihr werdet unsere Leichen hier raustragen.“

“Gestern habe ich ein belegtes Brot mit allen hier geteilt… ein Brot“, fügt eine ältere Frau hinzu.

“Sie (die ‚DVR’) liefern Vorräte in die Bezirke Woroschilowskij und Leninskij, wo es ruhig ist, aber hier, wo die Bomben explodieren,…“  ergänzt die erste ältere Frau. „Alle haben uns vergessen. Man sagt, man kann kommen und selbst Hilfe holen. Wer macht das, äh…?“

Die Älteren sind im Stich gelassen worden. Sie sind in die zentralen Anlagen zerstörter Gebäude übersiedelt. Eine ältere Frau mit Diabetes lebt in einem der Räume für Flüchtlinge. Ihr Bein fault ab und sie hat keine Hilfe.

Ärzte kommen nicht zu solchen Leuten wie sie. Ärzte sind wahrer Luxus in Donezk. Die Mediziner, die in der belagerten Stadt geblieben sind, behandeln im Allgemeinen verwundete Terroristen; sie haben nicht die Zeit oder die Einrichtungen, um sich mit anderen Leuten zu beschäftigen.

Nahezu alles in Donezk hängt von einheimischen Freiwilligen ab, die von ‚DVR’-Kämpfern nicht behelligt werden. Sie wissen, dass es die Zivilbevölkerung viel schwerer hat, wenn die Freiwilligen ihre Arbeit nicht tun dürfen.

Die Freiwilligen fahren nämlich in Städte, die nicht von der ‚DVR’ besetzt sind, und bringen Medikamente, Lebensmittel und Hygieneartikel mit, die in Donezk alle verschwinden.

Güter des täglichen Bedarfs fehlen in Donezk
Güter des täglichen Bedarfs fehlen in Donezk

Der Winter naht, und Freiwillige machen sich bereit, kleine Öfen nach Donezk zu bringen. Es ist unwahrscheinlich, dass die Stadtverwaltung die Zeit haben wird, die Wärmeversorgung in den ausgebombten Gebieten der Stadt in Stand zu setzen.

Während Freiwillige damit beschäftigt sind, zukünftige Ausgaben zu kalkulieren, speisen die Terroristenführer und die Kriegsherren der „Volksrepublik Donezk“ in den teuersten Cafés von Donezk. Das kann jeder sehen. Es klafft ein regelrechter Abgrund zwischen ihnen und dem „Volk“, für das sie den Krieg angeblich führten.

Geisterstadt Donezk
Geisterstadt Donezk

Niemand erwartet mehr irgendetwas in Donezk… weder von den Parlamentswahlen, die in der Region nicht abgehalten werden noch von den ‘DVR’-Wahlen – jeder weiß, dass sie gefälscht werden. Weder Krieg noch Frieden… es scheint, als ob die Stadt in einen Plastiksack gehüllt und alle Luft herausgepumpt worden sei… so wie der Wille der einheimischen Bevölkerung.

Donezk ist eine Geisterstadt geworden, die nur mehr eine Ähnlichkeit mit dem Leben hat. Die Hauptstadt des Donbas versinkt jeden Tag tiefer ins Koma. Wie wird die Stadt es schaffen, aus diesem komatösen Zustand herauszukommen? Das bleibt eine sehr große und komplizierte – und unbeantwortete – Frage.

Zerschossenes Gebäude in Donezk
Zerschossenes Gebäude in Donezk

Quelle: Ukrainska Prawda

Autorin: Jekaterina Serhatzkowa

Übersetzung: Übersetzerteam von Euromaidan Press auf Deutsch

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