Hintergrund: Im August erhielt die Redaktion der russischen unabhängigen Zeitung Novaja Gazeta eine Email, in der stand, dass der russische Oberleutnant Zachar Wladimirowitsch Timin in der Ukraine getötet worden war.
„Heute habe ich schreckliche Neuigkeiten von meinen Freunden erfahren. Gestern, am 16. August, wurde ein wunderbarer Mann getötet – Zachar Timin,“ steht im Brief. „Er starb während eines Einsatzes in der Ukraine (so viel ich weiss). Zachar ist ein grossartiger Mensch, ein guter, loyaler Freund, ein liebender Vater und Ehemann. Er hätte ein langes und glückliches Leben verdient. Ich finde es ungerecht, dass er in einem blödsinnigen Krieg, den niemand braucht, getötet wurde! Es ist schrecklich! Es tut mir unglaublich leid… Ich möchte seinen Freunden und Verwandten mein aufrichtiges Beileid aussprechen…“
Novaya Gazeta fand Zachars Ehefrau Irina Timin über soziale Netzwerke.
„Er sagte mir, er sei in der Nähe von Rostow“
Irina war abgeneigt eine/n Reporter/in in Person zu treffen, da sie dabei war einen Haufen an Bescheinigungen zu sammeln, welche die russischen Behörden für eine Witwenpension verlangen (dass ihr Ehemann offiziell nicht in der Ukraine getötet wurde, machte es noch einmal komplizierter). Zachars Mutter wäre wohl auch keine Hilfe gewesen, da ihre sozialen Netzwerkseiten Posts enthalten, in denen der ukrainische national-konservative „Rechte Sektor“ kritisiert wird. Schlussendlich erklärte sich Irina bereit, Fragen der Zeitung schriftlich zu beantworten.
War Ihr Ehemann ein Berufssoldat und war er im Donbas nicht als Freiwilliger?
Ja, war er. Er war ein Offizier. Er war kein Freiwilliger. Sehen Sie, er gehorchte den Befehlen, da er keine andere Wahl hatte.
Bitte teilen Sie mir seine Einheit, seine Position und seinen Grad mit. Wie lange hatte er bereits im Militär gedient?
Zachar diente in der Einheit Nr. 27777 in Tschetschenien, vor kurzem wurde er zum Oberleutnant befördert. Er war Zugführer.
Wann fanden Sie heraus, dass er in den Donbas ging? Wann hat er das Ihnen gesagt?
Er sagte nichts vom Donbas. Mein Ehemann ist ein Offizier, kein Vertragssoldat oder Einberufener. Bei den Offizieren ist es viel strenger. Sogar wenn die Offiziere etwas wissen, sagen sie nichts. Er sagte mir nie etwas, nicht einmal zuhause.
Wie fanden Sie heraus, dass er dorthin gegangen war?
Es fing an, als er mir in der Nacht vom 23. auf den 24. Juli eine Nachricht schickte, in der er sagte, dass sie nach Rostow gingen. Später am Telefon fügte er hinzu, dass er die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, da sie bis in den Morgen die Reise vorbereitet hatten. Alles war so schnell gegangen, dass er selbst nicht wirklich verstand, was geschehen war und wohin sie gingen. Allerdings glaube ich, dass es möglich ist, dass er es wusste, aber dass es ihm verboten worden war, etwas zu sagen. Anfangs war ich sehr besorgt. Als er zurückkam, beruhigte er mich, sagte mir, dass alles in Ordnung sei. Er schickte mir Fotos von den Übungsplätzen. Alles war in Ordnung und nichts deutete auf Probleme hin. Als er mir vorschlug ebenfalls nach Nowotscherkassk zu kommen, war ich schlussendlich überzeugt, dass ich mich nicht sorgen musste. Ich hatte bereits geplant, die Fahrkarten zu kaufen, als er mich anrief und sagte, ich solle nicht kommen. Er erklärte mir nicht, weshalb. Dann verschwand er für drei Tage. Als er mich wieder kontaktierte, sagte er, dass er sein Telefon nicht aufladen könne, da sie keine Elektrizität im Lager hätten. Ich war überrascht von dieser Antwort, aber damals schenkte ich dem keine grosse Beachtung.
Am 11. August rief er mich das letzte Mal an. Wir redeten, wie üblich, über alles. Und dann sagte er mir, dass er wieder keine Möglichkeit haben werde, das Telefon aufzuladen und dass er nicht wisse, wann er mich das nächste Mal kontaktieren könne.
Am 16. August fand ich heraus, dass mein Ehemann getötet worden war. Er war am 13. getötet worden. Ich verstand sofort, wo dies geschehen war. Er wurde am 8. Tag nach seinem Tod begraben.
Wer sagte Ihnen, dass er getötet worden war?
Am 16. August kam ein Major vom Einberufungszentrum und sagte mir, dass er schlechte Nachrichten habe, dass mein Mann während seines Dienstes gestorben sei. Ich hörte nicht mehr zu, was er danach sagte.
Liessen sie Sie ein letztes Mal Abschied nehmen von Ihrem Ehemann?
Sie liessen mich Abschied nehmen. Sie brachten ihn in einem verzinkten Sarg. Es gab ein Fenster in diesem Sarg. Aber wir entschieden uns, den Sarg zu öffnen. Wir liessen sein Gesicht in einer Leichenhalle in Ordnung bringen, denn seine Augen und sein Mund waren offen und er hatte Schrecken in den Augen. Ich weiss nicht, wieso sie sich nicht die Mühe gemacht hatten, sein Gesicht in Rostow in Ordnung zu bringen. Deshalb taten wir es bei uns, in Bugulma.
Wissen Sie, Zachar wollte schon immer ein Soldat sein. Seit er klein war. Er liebte es, an technischen Dingen zu basteln. Zuerst arbeitete er mit Panzern. Danach wurde er in eine motorisierte Infanterie Einheit verschoben. Das mochte er nicht so sehr, aber er gewöhnte sich daran. Später versuchte er, eine etwas ruhigere Tätigkeit zu wählen. Vor allem in letzter Zeit, als er anfing sehr müde und erschöpft zu werden. Er sagte, er mochte es nicht die ganze Nacht so zu arbeiten. Er wollte frühzeitig in Rente gehen und etwas anderes tun.
„Sie müssen mich mit jemand anderem verwechselt haben“
Nach Zachars Tod wurde Irina von Kristina Gerschwild kontaktiert, der Vertreterin des russischen staatlichen Senders NTV.
„Wir bereiten eine Sendung über die Lügen der ukrainischen Medien vor. Wir bekamen schreckliche Fälle zu sehen, in denen behauptet wurde, dass Menschen gefangen genommen worden waren, während sie gesund und munter zuhause waren. <…> Sind Sie Zachar Timins Ehefrau? Sie sind ein ähnlicher Fall, bitte entschuldigen Sie uns im Voraus, falls etwas nicht korrekt ist. Wir kontaktieren Menschen, die Opfer solcher Lügen wurden,“ schrieb Gerschwild an Irina.
„Ich würde Ihnen helfen, wenn Sie über die Lügen der russischen Medien berichten würden,“ antwortete Irina. „Welcher „ähnliche Fall“ bin ich? Sie verwechseln mich mit jemand anderem. Mein Ehemann wurde getötet und die Schuld an seinem Tod trägt unsere Regierung.“