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Chodorkowski: Die europäische Chance Russlands und unsere vordringlichen Aufgaben

Article by: Michail Chodorkowski
Translated by: Euromaidan Press Übersetzerteam Deutsch

Die folgenden vorbereiteten Bemerkungen wurden von Michail Chodorkowski während der globalen Veranstaltung eines Online-Forums abgegeben, die zum Start von „Offenes Russland“ organisiert wurde.

Jede politische Mehrheit war einmal eine Minderheit, aber nicht jede politische Minderheit wird notwendigerweise eine Mehrheit. Nur eine organisierte Minderheit hat eine politische Zukunft. Das Problem ist nicht, dass der pro-europäische Teil der Bürgerinnen und Bürger von Russland heute in der Minderheit ist, sondern dass er unorganisiert und demoralisiert ist. Die Frage der Selbstorganisation der Minderheit ist der wichtigste Punkt auf unserer heutigen Tagesordnung.

  1. Warum sind wir heute in der Minderheit? Was ist unser größtes Anliegen? Was unterscheidet uns von der absolut zufriedenen Mehrheit? – Wir teilen das, was man üblicherweise „europäische Werte“ nennt und wir stimmen nicht mit einem politischen Kurs überein, der diese Werte für ungesetzlich erklärt. Was ist das Besondere an diesen Werten, dass sie sich nicht bis zu den Russinnen und Russen erstrecken sollten? Man kann das russische Volk wirklich nicht sehr respektieren, wenn man annimmt, dass es nicht verdient, vernünftige Gesetze, eine unabhängige Gerichtsbarkeit, Polizisten, die man nicht kaufen kann und eine Regierung zu haben, die man wählen und abwählen kann.
  2. Tatsächlich ist die Frage einer europäischen Option der wichtigste Punkt auf der politischen Agenda für das post-kommunistische Russland geworden. Fjodor Dostojewski hat einmal gesagt, dass alles erlaubt ist, wenn es keinen Gott gibt. Heute handelt das regierende Regime gemäß dem Prinzip, dass alles für uns erlaubt sei, da wir nicht Europa seien – stehlen, eigenmächtig zu tun, was wir wollen, Andersdenkende zu unterdrücken und Krieg zu führen. Wir haben die Wahl – entweder Russland kehrt auf den europäischen Weg der Entwicklung zurück, dem es während der letzten 400 Jahre gefolgt ist, oder es wird hinter dem abgeriegelten Schranken vermodern, durch den es sich von der Welt abschließen will. Eine dritte Wahlmöglichkeit haben wir leider nicht.
  3. Der europäische Weg ist keine Abstraktion, er ist die Anerkennung der Rechtsstaatlichkeit als Grundstein, auf dem die russische Eigenstaatlichkeit gebaut ist. Der europäische Weg bedeutet faire Wahlen, ihre ehrliche Umsetzung (auf gleiche Weise für alle) und der bedingungslose Wechsel derjenigen, die an der Macht sind, ohne die weder das erste noch das zweite gewährleistet ist.
  4. Die Behauptung, dass „Russland nicht Europa sei“ ist eine Lüge, erfunden von denen, die damit ihr Recht begründen, das Land ein Leben lang zu regieren, indem sie auf Recht und auf Gerechtigkeit spucken. Es ist die Pflicht jedes ehrlichen Bürgers, dieser Lüge entgegenzutreten. Russland ist Teil Europas sowohl geografisch als auch kulturell. Der europäische Vektor von Russlands Entwicklung war das Ergebnis jahrhundertelanger moralischer und intellektueller Anstrengungen. Genau aus diesem Grund ist Russland zu einer Großmacht geworden.
  5. Das russische Volk hat jedes Mal teuer dafür bezahlt, wenn vom europäischen Vektor abgewichen wurde. Abgesehen von den ungeheuren menschlichen und materiellen Verlusten, hat es zu einem kritischen Rückfall in der wirtschaftlichen und spirituellen Entwicklung der russischen Gesellschaft geführt. Es gibt überhaupt keinen Zweifel daran, dass wir auch heute wieder einen exorbitanten Preis für das jüngste geschichtliche Experiment zahlen müssen, das dem russischen Volk aufgezwungen wird.
  6. „Russische Europäer“ sind in Russland nie verschwunden. Das ist vielleicht der Grund, warum es bis zum heutigen Tag immer noch lebendig ist. Russlands europäische Wahl wurde jahrhundertelang von einer Generation an die andere weitergegeben wie der Staffelstab eines Läufers. Sogar in Zeiten der bedrückendsten und finstersten Reaktion blieben Menschen in Russland, die der europäischen Idee ergeben waren. Wahre russische Patriotinnen und Patrioten drückten ihre Treue gegenüber europäischen Werten in Worten und Taten aus, indem sie sich nicht auf die rein intellektuelle Suche nach rationalen Antworten auf die Herausforderungen ihrer Zeit beschränkten. Nein, sie ergriffen Maßnahmen und taten das überdies gemeinsam im gesellschaftlichen Interesse, indem sie versuchten, die Menschen vor den scheußlichsten Manifestationen des Asiatizismus – willkürlichem, despotischem Machtmissbrauch – zu bewahren.
  7. Die russische Gesellschaft wird heute wieder von denselben alten Dämonen gequält, die sie schon so gut aus der russischen Geschichte kennt. Und aus diesem Grund ist spiritueller und politischer Widerstand wieder das Thema Nummer eins auf der heutigen politischen Agenda geworden. Aber Widerstand  – das ist eine Kunst und Wissenschaft. Neue Zeiten verlangen neue Formen, und neue Formen werden nur durch Interaktion und kreative Anstrengungen geboren.
  8. Die Staatsspitze hat den bürgerlichen Frieden in Russland zerstört und die russische Gesellschaft in einen Zustand eines kalten Bürgerkrieges hineingezogen. Im Laufe weniger Monate hat sie mit einigen gezielten Schlägen den politischen Raum in ein Schlachtfeld ohne Frontlinien, Flanken und Hinterland verwandelt. In diesem verbrannten politischen Raum würde jede reguläre politische Macht – sei es eine Partei oder ein anderer zentralisierter Verband – blitzschnell von der Oberfläche der Erde weggefegt werden, sollte sie auch nur versuchen, Machtansprüche zu stellen. Aus diesem Grund ist unter diesen Umständen die einzig effiziente Taktik des Widerstandes ein „politischer Guerillakrieg“ – das heißt dezentralisierter Widerstand gegen Willkür und Korruption durch Zellen der Zivilgesellschaft an der Basis.
  9. Wahlen sind ein wunder Punkt für das Regime. Sie wurden schon vor langer Zeit lediglich auf ein trostloses Ritual reduziert. Aber die Spitze kann sie als potenzielle Bedrohung nicht völlig abschaffen, ohne Russland zu einer absolutistischen Monarchie zu erklären. Und das bedeutet, egal was man hören mag, dass es ein bisschen Spielraum für die Zukunft gibt, und eine gut organisierte Minderheit kann in diesen schmalen Raum vordringen und sich dort eigentlich ganz gemütlich einrichten, bis zu dem Punkt, wo sie zum Knochen im Hals des Regimes wird, an dem es erstickt. Auf diese Art sind Wahlen auf allen Ebenen das Hauptziel des Widerstandes, vor allem aber die Wahlen zur Staatsduma 2016, die ein Bollwerk der Reaktion in Russland geworden ist. Und übrigens, sollte es die Staatsspitze auf eine vorzeitige Auflösung der Duma, die sich selbst in Misskredit gebracht hat, anlegen und versuchen, die Strohmänner in das neue Parlament durchzuwinken auf einer Welle der „die Krim gehört uns“ Euphorie  – so ist das auch ein exzellentes Ergebnis. So wird nämlich bewiesen, dass Wahlen tatsächlich ein schwaches Bindeglied sind und dass die Spitze sich vor einer oppositionellen Minderheit fürchtet. Aber wir sind nicht in Eile, wir bereiten uns auf eine lang andauernde Anstrengung vor.
  10. Wir beabsichtigen nicht, als unabhängige Kraft an Wahlen teilzunehmen, Das wäre heute politischer Selbstmord. Aber wir müssen eine Infrastruktur schaffen, die bereit ist, jeden beliebigen Kandidaten auf Wahlen auf allen Ebenen zu unterstützen, der die europäische Option in der Praxis vertritt und der bereit ist, gegen das Krebsgeschwür zu kämpfen, das Russland aufzehrt. – Korruption, Willkür und Kriminalität. Wir werden solche Leute unterstützen, ungeachtet dessen, welche politische Kraft sie repräsentieren. Noch wichtiger ist es, Leuten gegenüber Widerstand zu leisten, die sich öffentlich zu Isolationismus bekennen, die kriminelle Verbindungen zur Macht haben, die tief im Morast der Korruption stecken, Wir werden solchen Leuten Hindernisse in den Weg stellen, ungeachtet der politischen Flagge, unter der sie antreten. Wenn also ein würdiger Vertreter von „Vereinigtes Russland“ plötzlich bei Wahlen kandidiert, und sich herausstellt, dass ein Kandidat, der sich in Misskredit gebracht hat, ein Oppositioneller ist, werden wir denjenigen unterstützen, der würdiger erscheint und nicht denjenigen, der das „richtige Etikett“ trägt. Selbstverständlich reden wir über alle möglichen Formen von Unterstützung: Information, Weltanschauung, Organisation und natürlich, wo dies möglich ist, auch finanzielle Mittel.
  11. Was wir jetzt für effizienten Widerstand brauchen, ist nicht noch eine Partei mit einer weiteren „vertikalen“ Struktur, die um die Macht kämpfen will, sondern eine „horizontale“ Allianz der riesengroßen Zahl an „kleinen Bürgergruppen“, die die zugrundeliegende Struktur der Zivilgesellschaft bilden und ihre eigenen konkreten Probleme auf lokaler Ebene lösen. Die Aufgabe besteht darin, diese Gruppen zu unterweisen, sich in dem Moment rasch zusammenzuschließen und effizient zu interagieren, wo der Bedarf an gemeinsamen Aktionen entsteht, einschließlich, aber nicht nur, während der Wahlen.
  12. Ich schlage vor, so eine vernetzte Bewegung der Primärstrukturen der Zivilgesellschaft, die Teil der lokalen politischen Landschaft und daher weniger verwundbar sind und die sich öffentlich zur Rückkehr Russlands zum europäischen Weg der Entwicklung bekennen und damit sowohl zur Schaffung eines Staates mit fairen Gesetzen, der auf Rechtsstaatlichkeit basiert, als auch zum regelmäßigen Wechsel der Machthaber durch die Abhaltung von ehrlichen Wahlen, als Bewegung „Offenes Russland“ zu bezeichnen.
  13. Die Hauptorganisationsprinzipien von „Offenes Russland“ müssen daher Dezentralisierung und Autonomisierung (Selbstständigkeit) sein. Im „Offenen Russland“ muss jede Bürgerinitiative, die sich der Bewegung anschließt, ein separates Machtzentrum sein, dessen relatives Gewicht und relativer Einfluss nur durch die Nützlichkeit für die anderen Mitglieder der Bewegung bestimmt wird. Die Rolle des Koordinationszentrums wird darin bestehen, eine Interaktionsplattform zur Verfügung zu stellen: Eine Website „Offenes Russland“ wird online geschaffen werden, während „offline“ Foren regelmäßig zur Interaktion organisiert werden.
  14. Die Bewegung steht allen offen, die voll oder auch nur teilweise mit dem Hauptanliegen übereinstimmen  – die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit in Russland. Ich vermute, dass es faktisch eine ziemlich große Zahl von Leuten in Russland gibt, die dieses gemeinsame Ziel haben, und dass sie fähig sind, die Bewegung mit den nötigen Ressourcen zu versorgen – intellektueller, organisatorischer und finanzieller Art
  • Wir suchen Verbündete – Bürgerinitiativen, die sich zur europäischen Option bekennen und die Willkür des Staates einschränken wollen;
  • Wir suchen intellektuelle Unterstützung von Seiten der Gemeinschaft der Expertinnen und Experten, Spezialisten auf verschiedenen Wissensgebieten, die eine eigene Meinung über den Weg der Entwicklung Russlands haben;
  • Wir suchen Hilfe beim Informationssupport, der dazu beitragen soll, die Ergebnisse der aktuellen Politik genauer zu verstehen und möglichst vielen Menschen alternative Standpunkte näher zu bringen;
  • Wir suchen finanzielle Ressourcen; im Gegensatz zu Gerüchten, die von unseren Gegnern verbreitet werden, bekommen wir kein Geld von Amerika, sondern wir bekommen es von unseren Landsleuten.
  1. Wir haben einen Plan, der natürlich angepasst werden wird, indem wir die Ergebnisse der heutigen Tagung und der Online-Diskussion berücksichtigen. Wir müssen die „interessierte Minderheit“ sowohl mit einer Weltanschauung (Inhalt) als auch mit organisatorischen Ressourcen versorgen. Unsere vordringlichen Aufgaben: eine Kommunikationsplattform zu schaffen, die Arbeit der Experten-Community auf die Beine zu stellen, ein Bildungsmodul zu schaffen und organisatorische Kontakte zwischen allen interessierten Gruppen zu starten.Bis zu den Wahlen 2016 müssen wir eine organisierte Kraft werden.
  1. Wir starten morgen und sind für Zusammenarbeit mit allen, die unsere Ideale und Werte auch nur teilweise teilen, offen. Unser Slogan: Alle, die nicht gegen uns sind, sind für uns, Unser Ziel ist eine maximal breite Allianz. Wir betrachten alle als unsere Verbündeten, die für die gerechte Verteilung gesellschaftlichen Vermögens sind, für Gleichheit vor dem Gesetz, Rechtsstaatlichkeit, für Kontrolle der Regierung durch die Öffentlichkeit und für regelmäßigen Machtwechsel und Verantwortlichkeit des Beamtenapparats.

 

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