Ursprünglich erschienen im linken Webzine “Antidote”
Von Laurent Moeri für Antidote, übersetzt von K. H. W.
“Wenn der Kampf vorbei ist und die Märtyrer schlafen, erheben sich die Feiglinge aus den Gassen, um uns von ihrem Heldentum zu erzählen” – Graffiti in Homs, Syrien
Vorwort – Mission Impossible
Was folgt, ist ein Versuch des Unmöglichen: eine kritische Überprüfung der Situation in der Ukraine, der Beteiligung von Putins Russland und der Fähigkeit (oder Unfähigkeit) der internationalen Linken auf soziale Aufstände ohne bereits vorgeschriebene Botschaften zu antworten. Ich schreibe auf Grundlage einer einzigen Prämisse: dass nämlich die Opfer einer möglichen militärischen Eskalation in der Ukraine überwiegend ethnische Minderheiten sein werden: die muslimischen Krimtataren, marginalisierte Gruppen wie die Sinti und Roma, sowie die Arbeiterklasse; während die Bürokraten in Brüssel und der Zar und sein Clan in Moskau ihre jeweiligen Interessen weiterverfolgen werden. Um die Wahrscheinlichkeit dieser Vorhersage zu unterstreichen, werde ich einen Vergleich zwischen den Ereignissen in Tschetschenien und denen auf der Krim anstellen.
Ich werde versuchen, eine differenzierte Beurteilung von Ereignissen auf der Basis historischer und aktueller Tatsachen vorzunehmen – und keine ausgewogene Darstellung kann den Umfang der russischen Selbsttäuschung verleugnen. Man muss sich nicht besonders rückversichern, um zu sagen: Russland ist ein Polizeistaat,¹ mit keinen oder sehr wenigen bürgerlichen Freiheiten, weit entfernt von einer Demokratie, und noch weiter entfernt davon, eine antifaschistische Entität zu sein. Das größte Risiko besteht für die Marginalisierten – unsere natürlichen Verbündeten – und genau an ihrer Seite sind unsere Anstrengungen erforderlich. Ich werde versuchen zu zeigen, dass wir, wenn wir uns wegen ideologischer (Gleich)gültigkeiten nicht bei sozialen Protesten engagieren (oder uns dem Engagement verweigern) nicht nur unsere moralische Position verlieren, sondern auch die unzufriedenen Massen an die reaktionären Kräfte.
Bereits mit dem Aufkommen des Maidan-Aufstands war es offensichtlich, dass uns eine antifaschistische Konfrontation in der Ukraine und in Russland bevorsteht.² Russlands Aggression in der Ukraine hat die Angelegenheit kompliziert; ohne sie könnten wir unsere Anstrengungen auf die Beseitigung der Oligarchie und der neoliberalen Politik wie auch aller braunen Elemente in der Ukraine konzentrieren. Egal: Jetzt ist ein entscheidender Moment, um unsere Stimme gegen den Faschismus, Neoliberalismus und Imperialismus zu erheben.
Ich bin nicht daran interessiert, die vorformulierten Botschaften, die wir schon zu gut kennen, zu wiederholen; dieser Artikel wurde mit dem Verständnis geschrieben, dass Sie als Leser*in – genau wie ich – es verdient haben, als ein reifer, unabhängiger Geist behandelt zu werden, der fähig ist, kritisch zu hinterfragen… und nicht als Propaganda-schluckender Zombie.
Eine Sache ist klar: Es gibt keinen Weihnachtsmann, und es gibt keine Engel in der Politik… nur eigennützige Arschlöcher. Irgendwann jedoch, und ich bin davon überzeugt, werden die Tatsachen lauter sprechen als jede Propagandamaschine.
I. Ein Taschenatlas der post-sowjetischen Staaten
“Ich möchte noch einmal an Russlands jüngste Geschichte erinnern:
Wir sollten uns klar werden, dass es sich beim Zusammenbruch der UdSSR um die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts handelt. Zig Millionen unserer Mitbürger und Landsleute lebten auf einmal außerhalb der Grenzen Russlands und mussten sich eine neue Heimat suchen. Darüber hinaus hat die Epidemie des Zerfall Russland selbst infiziert.” – Wladimir Putin
Russland und die Sowjetunion waren schon immer ein Flickenteppich ethnischer und nationaler Gruppen. Im Laufe der modernen Geschichte befürchtete jeder russische Staatschef den Zerfall und die Unabhängigkeitsbewegungen im “Mutterland.” Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sahen viele, wie sich diese Befürchtungen in Realität verwandelten. Russland verlor wesentliche Teile seiner ehemaligen Gebiete und mit ihm viel von seinem Nationalstolz.
Diese Demütigung wurde in den frühen Tagen des Zusammenbruchs durch die heftige Deregulierung und Liberalisierung verschärft; der Internationale Währungsfonds forderte einen massiven Ausverkauf des Nationalvermögens (und half dabei). Ausländische Investoren konnten für einen Bruchteil des Wertes alles kaufen. Das ehemalige Sowjetreich wurde gedemütigt, während der Westen und seine Marktideologen ihre Botschaft an den Mann brachten: die liberale Demokratie und der Kapitalismus seien der einzige Weg³.
Ich möchte Sie fragen: Ist es ein Zufall, dass Russland nach der Demütigung und dem Ausverkauf der Sowjetunion – einem in den Augen vieler Russen von einem inkompetenten und beschämenden Präsidenten⁴ geführten Zeitraum – einmal mehr den Ruf nach Einsetzung eines “starken Mannes” erlebt? Ich bezweifle es. Dies scheint den imperialistischen Charakter des russischen Nationalismus wiederzuspiegeln und bietet Platz für Putins eigene politische Bestrebungen, eine verlorene “Herrlichkeit” der Vergangenheit wieder einzufangen – und das schließt die Wiedererlangung der Kontrolle über verlorene Gebiete ein.
Den vollständigen Text finden Sie auf Antidote