5. September 2014 – Übersetzt aus dem Russischen von Irina Schlegel
Hab’s zwischen dem 4. und dem 5. September geschrieben.
In der Stadt, die vom Feind gestürmt wird, kann man nicht einschlafen. Facebook provoziert eine Panikattacke, Bücher und Kino gehen gar nicht, und sogar der Körper gibt keine Ruhe, den gemeinsamen Traum aller Frauen verwirklichend- die Abwesenheit des nächtlichen Hungers. Lasst uns uns von den Erinnerungen ablenken:
Während des Maidan war Mariupol ein Donbas.
Die Patrioten blitzten wie gefährliche Funken in der allgemeinen Finsternis auf. Die Stadt hat den Maidan mit einer mythologisierten Massenträgheit verurteilt: es gehört sich so für den Süd-Osten, die nationalen Ideale nicht zu lieben, oder die Freiheit nicht zu schätzen, oder die Würde nicht zu respektieren. Die Revolution hat uns durch folgende Phasen geführt: Gereiztheit, Wut, Hass, Niederlage. Die wiederum von einer Höhlenfreude über den Krimverlust abgelöst wurde. Die Marginalisierten haben mit einem quiekenden Enthusiasmus angefangen, die damals noch friedlichen Demos der DVR zu besuchen. Die Stadt wurde aus den Angeln gebracht. Die Patrioten haben angefangen, auf ihre eigenen Demos hinauszugehen, und verloren bald gegenüber den Verehrern der Drei-Buchstaben-Organisation, was die Quantität angeht.
Dann war die DVR verwirklicht
Dann war die DVR (A.d.Ü.: Donezker Volksrepublik) verwirklicht. Verbrannte Banken, besoffenes kriminelles Fußvolk mit Feuerwaffen, beraubte Läden, abgedrückte Autos, gefangene Stadtbürger unter animalischen Bedingungen, verbrannte Staatseinrichtungen, zerschossene Hauptverwaltung für innere Angelegenheiten. Fast drei Monate Angst und Unsicherheit. Plötzlich hat sich die Halbmillionenstadt wie ein Geist gefühlt: leere Straßen, geschlossene Cafés, Wege ohne Autos. Die Patrioten sind in den Untergrund abgetaucht.
Am 13. Juni hat das Bataillon „Asow“ die Stadt befreit.
Anderthalb Wochen lang kamen wir wieder zu uns
Anderthalb Wochen lang kamen wir wieder zu uns, alles Geschlossene öffnete vorsichtig. Plötzlich hat sich herausgestellt, dass unsere Stadt mit der Metallurgie nicht nur durch unsere Fabriken verbunden ist, sondern auch metaphysisch. Das gewaltige Erzlager des Patriotismus verwandelte sich in ein Ozean konstruktiver Energie. Ruckartig wollten alle etwas für die Ukraine tun. Hunderte Freiwilliger haben das geliebte Bataillon unter ihre Vormundschaft genommen, das nicht müde wurde, die DVR-Verbrecher zu fassen. Tausende Aktivisten haben die Stadt in blau-gelben Farben ertränkt. Die Liebe zum Ukrainischen verwandelte den amöbenartigen Plebs zusehends in vollbürgerliche angstlose Patrizier. Plötzlich hatten wir keine Angst mehr, unsere Vorgesetzten, die, unsere ganze Geschichte hindurch, für uns sakrale Aristokraten, unerreichbare Himmelbewohner waren, zur Verantwortung zu ziehen.
Genau in diesem Moment hat Mariupol begriffen, was für ein tektonischer in seinen Maßstäben Bruch zwischen ihm und Donezk liegt. Wir sind freie Bürger, die Donbewohner streben aber nach Verhätscheln ihres Feudalismus. In dieser bewegenden Zeit beherrscht die Idee eines Pri-Asowschen Gebiets [(Präposition при, pri: nahe bei, dem Asowschen Meer vorgelagert] unsere Geister. Genau in dieser Veränderungsepoche haben wir gelernt, unsere ukrainische Identität zu schätzen.
Und hier ist er: der Krieg vor unserer Hausschwelle. Die russische Armee und ihre DVR-Helfershelfer. Das destruktive Prinzip, das sich unheilbringend über unsere Erde verbreitet… In der Stadt ist die Mobilisierung der Patrioten explodiert. Gräben, Blockposten [Straßensperren], zehnfache Hilfe für die Armee, eilige Jugendaufnahme in das eigene Bataillon „Mariupol“. Scharf, bis zum physischen Herzschmerz spüren wir, wie wichtig uns ist, Ukrainer zu sein. Und jetzt, ich weiß es, haben Hunderte, Tausende meiner Mitbürger auch kein Schlaf. Und dass ihre Herzen im Einklang mit meinem schlagen: ruhelos und schnell. Vielleicht können die Okkupanten unseren Asphalt, unsere Betonhäuser und eiserne Brücken einnehmen. Aber unserer blau-gelben Seelen werden sie uns nicht mehr berauben können.
Quelle: https://www.facebook.com/umniyyar/posts/704805799592073
übersetzt von Irina Schlegel