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Ukraine: Eine Leidenschaft für Europa – Mario Vargas Llosa

Ukraine: Eine Leidenschaft für Europa – Mario Vargas Llosa

von Mario Vargas Llosa, El País,  30. November 2014

Der Stein des Anstoßes: Die Aggression Putins ist nur sein erster Schritt seinerHerausforderung des westlichen demokratischen Systems; aber die Ukrainer sind jetzt frei, und Russland wird es viel kosten, ihnen diese Freiheit wieder zu entreißen.

Jeder, der sich beim Aufbau der Europäischen Union demoralisieren lässt, sollte in die Ukraine fahren, um zu erfühlen, welch enorme Begeisterung dieses Projekt bei vielen Millionen Ukrainern geweckt hat, die in einem geeinten Europa die einzige Überlebensgarantie für die Souveränität und die Freiheit sehen. Eine Freiheit, die sie mit den Heldentaten auf dem Maidan gegen die korrupte Regierung von Janukowytsch erobert haben und die jetzt das Russland Putins bedroht, welcher sich angeschickt hat, das sowjetische Imperium wiederherzustellen (auch wenn das nicht ganz so genannt wird). Außerdem würde er [oder sie] auch die stoische Gelassenheit einer Gesellschaft angesichts der Invasion einer fremden Macht erkennen können, die dazu geführt hat, dass schon mehr als ein Fünftel des Territoriums [der Ukraine] besetzt ist, und an deren Ostgrenze jeden Tag mehr Freiwillige sterben, als die offiziellen Statistiken zeigen – eine Grenze, die weiterhin täglich von Hunderten gepanzerter Fahrzeuge und Tausenden von russischen Soldaten überschritten wird.

“Nur zweihundert Panzer in den letzten zwei Tagen und mit ihnen etwa 2.000 Soldaten, ohne Uniformabzeichen” erklärt mir Präsident Petro Poroschenko, in dem riesigen und schweren Gebäude, das seine Residenz ist und das ursprünglich für das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Ukraine gebaut worden war. “Russland hat keinen einzigen Tag das in Minsk unterzeichnete Friedensabkommen respektieren. Aber die russische Invasion hat dazu gedient, uns zu vereinen. Jetzt lehnen 80% [der Bevölkerung] des Landes die Intervention ab und sind bereit zu kämpfen.” Er spricht ruhig, in einem gepflegten Englisch – er ist ein wohlhabender, korpulenter und freundlicher Unternehmer, jeder kennt seine Schokoladenfabriken. Er ist überzeugt davon, dass Europa und die Vereinigten Staaten die koloniale Besetzung seines Landes nicht zulassen werden.

Angeblich gibt es ja Differenzen zwischen Präsident Poroschenko und seinem Ministerpräsidenten Arsenij Jazenjuk, der [in seinen Ansichten] radikaler sei. Im Gespräch mit jedem einzelnen von ihnen habe davon kaum etwas bemerkt. Beide gehen davon aus, dass die russische Aggression andauern wird und dass die Ukraine für Putin nur einen ersten Schritt seiner Herausforderung an das westliche demokratische System darstellt, das er als wichtigsten Gegner Russlands und der von ihm gesteuerten autoritären und imperialen Ordnung wahrnimmt. In der gegenwärtigen Situation fühle sich der russische Herrscher eher noch bestärkt durch die Straflosigkeit, mit der er die pro-russischen Enklaven in Georgien, Südossetien und Abchasien geschaffen, sich der Krim bemächtigt und Präsident Obama in Syrien eine Demütigung zugefügt hat, und damit fröhlich und ohne den geringsten Schaden die von Obama gezogenen “roten Linien” übertreten konnte.

Worin sich Poroschenko und Jazenjuk jedoch unterscheiden ist die Tatsache, dass der selten in der Öffentlichkeit auftretende Ministerpräsident gar nicht erst versucht, seinem Gesprächspartner gegenüber sympathisch zu erscheinen, und im Gespräch manchmal eine geradezu rau wirkende Ehrlichkeit an den Tag legt, die für jeden anderen Politiker einem Selbstmord gleichkäme. “Niemand wird in den Krieg für die Ukraine ziehen, das ist uns wohl bewusst. Ich hoffe zumindest, dass man uns Waffen gibt, um uns zu verteidigen.” Er ist dünn, kahl, kurzsichtig, mit einer dicken Brille und wirkt wie ein Asket. Der prominente Wirtschaftswissenschaftler leitete die Zentralbank, war Wirtschaftsminister und lächelt selten. “Ich bin nicht pessimistisch sondern realistisch,” sagt er. “Die Zaren, Lenin und Stalin versuchten, uns verschwinden zu lassen. Jetzt sind sie alle tot, und die Ukraine ist immer noch am Leben. Was sollen wir tun, trotz der Ungleichheit der Kräfte mit Russland? Kämpfen müssen wir, dazu gibt es keine Alternative.” Er ist der Überzeugung, dass – falls die Ukraine fällt – die baltischen Staaten, Polen und die anderen ehemaligen “Volksdemokratien” die nächsten Opfer sein werden. “Putin kann nicht mehr zurück, in Russland würden sie ihn umbringen. Er machte sein Volk glauben, dass dies alles eine Verschwörung der CIA und der Vereinigten Staaten sei. Und jetzt glauben die Russen daran und sind bereit, alle wirtschaftlichen Sanktionen zu ertragen, die ihnen von der demokratischen Welt auferlegt wurden. “Diese Sanktionen werden gravierende Auswirkungen auf die russische Wirtschaft haben, aber Jazenjuk glaubt nicht, dass dies die imperialistische Berufung Putins untergraben werde. “Sein Hauptziel ist kein wirtschaftliches, sondern ein politisches und ideologisches.”

In der Stadt Dnipropetrowsk, auf beiden Seiten des majestätisches Flusses Dnipro gelegen, sind in den letzten Wochen mehr als 40.000 Flüchtlinge aus den umkämpften östlichen Provinzen angekommen. Der Bürgermeister sagte mir, er erwarte in den kommenden Wochen weitere 40.000 Menschen. Obwohl die durch den Krieg verursachten Zwangsvertreibungen schwer zu quantifizieren sind, dürfte die Zahl der Ukrainer, die die Städte und Gemeinden an der Grenze verlassen haben, bereits eine Million überschritten haben. Um für diesen massiven Exodus Unterbringungsmöglichkeiten zu bieten, hat sich die Zivilgesellschaft mobilisiert und liefert Unterstützung und übernimmt zuweilen ersatzweise die Funktionen des Staates. Derzeit rekonstruiert sich die Zivilgesellschaft sprunghaft nach der Volkserhebung auf dem Maidan und nach der katastrophalen Situation, die durch den Zusammenbruch der Diktatur unter Janukowytsch verursacht wurde.

Auf dem riesigen Platz dieses Namens [Maidan] sind die Fotos von allen ausgestellt, die während der Aktionen getötet wurden. Ich spreche mit einigen Führern des Aufstandes, und am meisten hat mich Dmitrij Bulatow beeindruckt. Er organisierte die Kolonnen von Autos [Automaidan], die in der Form von friedlichen Kundgebungen vor den Residenzen der Führer der Regierung demonstrierten und die Kommunikation der Rebellen sicherstellten. Gleich zu Beginn der Proteste wurde er auf offener Straße von Personen entführt, die vermutlich zu den “Sondereinsatzkräften” der Regierung gehörten. Acht Tage lang wurde er gefoltert, man hat ihm  Schnittwunden im Gesicht beigebracht und die Hälfte eines Ohrs angeschnitten und schließlich gekreuzigt. Seine Peiniger wollten, dass er gestehen sollte, der Maidan werde von der CIA finanziert. “Ich gestand ihnen all den Unsinn, den sie wollten, aber ich war dennoch sicher, sie würden mich umbringen.” Doch am achten Tag verschwanden die Entführer auf mysteriöse Weise. Jetzt ist er Minister für Jugend und Sport. Ein junger und jovialer Mann, der ohne die geringste Zurückhaltung sein abgetrenntes Ohr, seine große Narbe im Gesicht und die zerquetschten Hände zeigt. Er informiert mich sehr ausführlich über seine Bemühungen und die seiner Kollegen in der Regierung, die Korruption zu beenden, die in der großen staatlichen Bürokratie noch weit verbreitet ist. Ich frage ihn, ob es wahr ist, dass er unmittelbar nach der Entführung als Freiwilliger in die Kämpfe an der Grenze zog. “Ja, und meine Frau sagte mir, sie würde mich umbringen, wenn lebend zurückkomme. Aber das tat sie nicht.” Seine Frau, die an seiner Seite ist, jung, hübsch und fröhlich, stimmt zu: “Da, da, da”.

Die ukrainische Armee, die sich den Russen entgegenstellt, steht praktisch vor dem Nichts. Zum Teil besteht sie lediglich aus Freiwilligen, und angesichts der Unsicherheit über die verfügbaren Mittel der Regierung funktioniert sie vor allem dank der Unterstützung durch die Zivilbevölkerung. Julia, meine Übersetzerin, sagt mir, dass sie und ihre Kinder sich verantwortlich erklärt haben für die Sammlung auf der Straße, um den Soldaten zu helfen, und dass sie selbst jede Woche mit Mietwagen zur Grenze fahren, um Lebensmittel, Decken, Matratzen und Geld dorthin zu liefern, damit die Kämpfer überleben können.

Der einzige ukrainische Schriftsteller, den ich gelesen habe, ist Michail Bulgakow. Er wäre in diesen Tagen des Widerstands und des ruhigen Heldenmuts seiner Landsleute stolz auf sie. Er war Opfer Stalins und des kommunistischen Regimes, die meisten seiner Bücher wurden zensiert; sein Meisterwerk “Meister und Margarita” erschien erst in den siebziger Jahren, viele Jahre nach seinem Tod. Anstatt ihn in den Gulag zu schicken hatte Stalin die Perfidie besessen, ihm einen miserablen Job am selben Theater zuzuweisen, wo zuvor seine erfolgreichsten Werke aufgeführt worden waren, damit er vor lauter Nostalgie und Frustration sterben musste.

Ich besuche sein Haus – ein Museum auf dem schönen Hügel des Hl. Andreas, wo es eine schöne orthodoxe Kirche, Straßenmaler und Kioske gibt mit Beleidigungen gegen Putin auf T-Shirts und Toilettenpapierrollen mit seinem Gesicht. Das Haus des Schriftstellers ist schön renoviert, weiß angestrichen, voller Bilder – seine sechs Schwestern und die Eltern waren tiefreligiös – und dort sind seine Notizbücher als Medizinstudent, sein Diplom, seine posthum veröffentlichten Bücher augestellt, die er selber nie gesehen hat. Der Besuch dieses Hauses, dieses Lands, auch wenn es nur für fünf Tage war, machte mich traurig, machte mich froh, machte mich rebellisch – alles zugleich. Solch ein kurzer Besuch füllt einem den Kopf mit verwirrenden Bildern und erhabenen Gefühlen. Aber einer Sache bin ich mir sicher: Die Ukrainer sind jetzt frei, und Wladimir Putin wird es viel kosten, ihnen diese Freiheit wieder zu entreißen.

Titelbild: Fernando Vicente, El País

vargasAutor: Mario Vargas Llosa (Literatur-Nobelpreis 2010)

Quelle: El País,  30. November 2014

Übersetzung aus dem Spanischen: Euromaidan Press auf Deutsch

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