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Warum Deutschland nicht mehr Russlands bester Freund im Westen ist

Warum Deutschland nicht mehr Russlands bester Freund im Westen ist

Von Ivan Nechepurenko, The Moscow Times, 2. Dezember 2014

Deutschland ist seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Russlands Schlüsselpartner in Europa, aber es gibt Anzeichen dafür, dass Berlin bereit ist, diese Situation zu ändern – und es wird eine lange Zeit dauern, bis die bestimmenden Fragen gelöst werden, und es könnte die Zukunft der Russland-Beziehungen Europas als Ganzes bestimmen, wie Analysten sagen.

In der vergangenen Woche hat die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Rhetorik in Bezug auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin verschärft, ein offensichtliches Zeichen, dass sie sich auf eine langfristige Auseinandersetzung einrichtet.

“Das Vorgehen Russlands [in der Ukraine] hat die Friedensordnung in Europa in Frage gestellt und stellt eine Verletzung des Völkerrechts dar”, sagte sie am Mittwoch in einer Rede im Bundestag.

“Wirtschaftliche Sanktionen bleiben unvermeidlich und zeigen, dass wir in unseren Bemühungen, die Krise zu durchstehen, Geduld und Ausdauer brauchen werden,” sagte sie.

In der gleichen Woche wurde die Jahrestagung des hochkarätigen Deutschland-Russland-Forums im Petersburger Dialog, an denen Merkel und Putin bisher persönlich teilnahmen, auf unbestimmte Zeit verschoben, wie der Direktor des Forums, Martin Hoffmann, der Moscow Times sagte.

“Wir verlieren Russland nicht im Sinne von Putin und den Eliten, sondern in Bezug auf die Menschen im Allgemeinen,” meinte der Direktor des Deutsch-Russischen Forums in einem Telefoninterview.

Die Vorstandssitzung des Forums war für den 1. Dezember geplant, wurde aber abgesagt nach deutschen Forderungen nach einer Reform des Forums, damit zukünftig unabhängigere Mitglieder der Zivilgesellschaft dem Forum angehören.

Eine Prinzipienangelegenheit

Deutschland hat das Wohlergehen der EU über seine eigenen bilateralen Beziehungen zu Russland gesetzt, ohne Rücksicht auf die Werte, die die EU definieren, sagte Fjodor Lukjanow, der Leiter des russischen Rates für Außen- und Verteidigungspolitik der Moscow Times.

“Für sie hat die europäische Einheit und die Zukunft der Europäischen Union, die immer mehr zu einer deutschen Organisation wird, Priorität. Deutschland hat sich entschieden, im Namen der EU zu handeln, und unterstreicht damit seine Führung,” sagte er der Moscow Times.

Analysten sagten, Merkel sei sich der inoffiziellen Rolle ihres Landes als Führungsnation der EU völlig bewusst und ließe Vorsicht walten in dem Wissen, dass andere Staatsführer auf Berlin zur Orientierung schauen.

“Merkel bestimmt jetzt die Politik der Union als Ganzes,” sagte Lukjanow.

Aufgrund der wirtschaftlichen Zentralisierung nach der Finanzkrise von 2008 profitierte Deutschlands exportorientierte Industrie in den letzten 15 Jahren aus der Abschwächung des Euro, das Land fand sich in seiner führenden Rolle in Europa bestärkt; im Hinblick auf die Krise in der Ukraine wird diese Rolle noch zusätzlich durch die traditionell engen Beziehungen des Landes mit Russland verstärkt.

Deutschland rettete größtenteils die EU nach der Finanzkrise von 2008, die das Projekt der gemeinsamen Währung an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hatte. Dadurch wünscht das Land jetzt noch stärker, den Zusammenhalt der EU zu erhalten, und verfolgt einen schmalen Pfad, um alles zu vermeiden, was auch nur einen Anschein von Spaltung zwischen den sehr unterschiedlichen 28 Mitgliedern der Gemeinschaft darstellen könnte, sagen Analysten.

Zur gleichen Zeit beeinflusst das Konzept, dass mit der Macht auch die Verantwortung kommt, auch Deutschlands Russlandpolitik, wie Experten einmütig sagen.

Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier sagte Anfang des Jahres, dass Berlin eine erweiterte und selbstbewusstere Rolle in internationalen Angelegenheiten übernehmen sollte. Diese Politik, die manchmal als “Neue Verantwortung” bezeichnet wird, steht für eine deutlichere deutsche Führung in europäischen Angelegenheiten.

Deutschland kann jetzt nicht mehr zwischen den USA und Russland stehen, sagte Ulrich Speck, Gastwissenschaftler bei Carnegie Europe in Brüssel.

“Deutschland kann nicht mehr als Vermittler auftreten, denn es ist jetzt ein Akteur; Deutschland ist selbst ein entscheidender Spieler auf dem Spielfeld,” sagte er in einem Telefoninterview.

Die rote Linie überschritten

In dieser Situation stand das erstarkte Deutschland vor der Wahl: Es hätte Europa in einem Versuch, in der Krise zu vermitteln, anführen können und von dem gestiegenen Vertrauen zu Russland und Putin insbesondere Profit schlagen können, oder es hätte seine Rhetorik verschärfen und betonen können, dass der Kreml durch die Annexion der Krim die rote Linie überschritten hat.

Die zentrale Frage in dieser Situation war die Rechtmäßigkeit der russischen Annexion der Krim, die im Widerspruch zur Rhetorik und den Werten der EU steht, sagte Wladislaw Below, der Direktor des Zentrums für Deutschlandforschungen [am Europainstitut] der Russischen Akademie der Wissenschaften.

“Es ist sehr wichtig für Merkel, eine starke Rhetorik in Bezug auf Putin und Russland aufrecht zu erhalten, um ihren unbeugsamen Willen und die Unabhängigkeit von Moskau zu zeigen,” sagte er.

Am Freitag stellte eine vom ZDF in Auftrag gegebene Umfrage fest, dass 58 Prozent der Deutschen sich für die EU-Sanktionen aussprechen, auch wenn sie für die die deutsche Wirtschaft schädlich sind, gegenüber 52 Prozent vor einem Monat. Die Umfrage ergab außerdem, dass 76 Prozent den schärferen Ton in Merkels jüngster Kritik an Putins Politik unterstützen.

Below erwartet, dass Merkel diese härtere Rhetorik mindestens noch drei oder vier weitere Monate durchhält, bis die EU entscheiden wird, ob sie die Sanktionen gegen Russland verlängern wird. Auf lange Sicht wird der Status der Krim zumindest informell vereinbart werden: Der jüngste Appell des ehemaligen Bundesministers Matthias Platzeck, die Krim als russisches Territorium anzuerkennen, sei ein Zeichen dafür, dass dieser Prozess im Gange ist, sagte Below.

Die persönliche Chemie

In einem kürzlich veröffentlichten Tiefenprofil Merkels berichtete die Zeitschrift New Yorker, dass Putin sie bei mindestens einer Gelegenheit angelogen hat: Im Mai war eine offizielle Erklärung des Kreml über ein Telefongespräch zwischen den beiden Führern positiver als die Haltung, von der Merkel glaubte, dass sie zuvor vereinbart war. Entsprechend dem Profil war Merkel darüber sehr aufgebracht und sagte einen für die folgende Woche geplanten Anruf ab.

Ein Vergleich der drei offiziellen Erklärungen des Kreml über die Telefonanrufe zwischen Merkel und Putin im Mai enthüllt nichts, was in Erinnerung geblieben ist. Insgesamt haben Merkel und Putin in den letzten neun Monaten mindestens 40 Mal am Telefon miteinander gesprochen, nach Angaben der Kreml-Website.

Tatjana Stanowaja von der Moskauer Denkfabrik Zentrum für politische Technologien sagte, dass die persönliche Feindschaft Merkels gegenüber Putin eine große Rolle in der bilateralen Dynamik spiele.

“Merkel persönlich mag Putin als Person nicht, deswegen setzt sie auf einen Regimewechsel in Russland, was einige Zeit dauern wird. Sie glaubt, dass es unmöglich ist, sich mit dem heutigen Russland und seinem Führer, dem man nicht vertrauen kann, auf irgendetwas zu verständigen,” sagte Stanowaja in einem Telefon-Interview.

Während Merkels Vorgänger Putin einen “lupenreinen Demokraten” nannte, erklärte Merkel angeblich gegenüber US-Präsident Barack Obama, dass Putin “in einer anderen Welt” lebe.

Zur gleichen Zeit wies Below darauf hin, dass Merkels Berater ihr empfohlen hatten, ein Treffen in Mailand im Oktober abzusagen, als Putin mit zwei Stunden Verspätung zu dem Treffen mit Merkel kam, aber stattdessen fand das Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt statt.

“Putin und Merkel sprachen vier Stunden lang in Brisbane [auf dem jüngsten G20-Gipfel], sie kommunizieren miteinander mehr als mit jedem anderen führenden Politiker der Welt. Dies ist ein konstruktiver Dialog, aber der Inhalt ist geheim,” sagte er.

Während des Gipfels im November traf Merkel Putin während eines persönlichen Treffens zwischen den beiden Politikern in einem Hotel in Brisbane, aber das vierstündige Gespräch hatte nicht viel Erfolg. Mehrere deutsche Beamte sagten der Nachrichtenagentur Reuters nach dem Treffen, dass sie eine lange Zeit der Konfrontation vorhersehen, “vergleichbar mit einem zweiten Kalten Krieg”.

Gleichzeitig sagte Merkel bei einer Reihe von Gelegenheiten, dass sie sich nicht von persönlichen Emotionen in ihrem politischen Urteil oder ihrer Logik beeinflussen lässt.

“Trotz großen Zorns zwinge ich mich, mit Russland jetzt unabhängig von meinen Gefühlen zu sprechen,” sagte sie in einer Rede im Mai letzten Jahres im Deutschen Historischen Museum, aus der die Zeitschrift New Yorker zitiert. “Und jedes Mal, wenn ich das tue, bin ich überrascht darüber, wie viele andere Ansichten in einer Angelegenheit möglich sind, die für mich ganz klar ist.”

Titelfoto: Während Merkels Vorgänger Putin einen “lupenreinen Demokraten” nannte, erklärte Merkel angeblich gegenüber US-Präsident Barack Obama, dass Putin “in einer anderen Welt” lebe. – Arnd Wiegmann / Files / Reuters

Autor: Ivan Nechepurenko

Quelle: The Moscow Times, 2. Dezember 2014

Übersetzung: Euromaidan Press auf Deutsch

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