Oberst Igor Girkin drängt den Kreml auf Ausweitung des Kriegseinsatzes in der Südostukraine
Von Irena Chalupa, The Atlantic Council
“Der Schütze” ist wieder da. Oberst Igor Girkin [auch unter seinem Kriegsnamen Strelkow, “der Schütze”, bekannt], der russische Geheimdienst-Offizier, der vor drei Monaten aus seiner führenden Rolle im von Russland gesponserten Krieg gegen die Ukraine verschwand, macht in Russland erneut Schlagzeilen. Er gab eine Flut von Interviews, in denen er die russische Regierung bedrängt, den beiden “Volksrepubliken” im Südosten der Ukraine eine intensivierte und direktere militärische Unterstützung zu geben.
Girkin begann seine Medienkampagne im Oktober, er sprach im Fernsehen, Radio und schrieb in Internet-Medien, um ein aggressiveres russisches Vorgehen in der Ukraine voranzutreiben. Girkin begann seinen Krieg in der Ukraine heimlich, als Führer der nicht identifizierten “grünen Männchen”, die die Krim und Städte in der Region Donbas besetzten. Seit der ukrainische Geheimdienst ihn im Mai als Top-Kommandeur im Krieg identifiziert hat, debattieren Analysten darüber, inwieweit er ein treuer russischer Soldat ist, der direkte Kreml-Anweisungen ausführt, oder als Angehöriger einer russischen nationalistischen Gemeinschaft mit stillschweigender Ermutigung von Moskau handelt, um in der Ukraine Krieg zu führen. Wie auch immer Girkin innerhalb dieser Spannweite einzuordnen ist, sein Wiederauftauchen bietet einen Ansatz für extreme Nationalisten, die Präsident Wladimir Putin bedrängen, bis zu einem Drittel des ukrainischen Territoriums in einer neuen Militäroffensive zu besetzen.
Russland hat Dutzende weitere Panzer, Schützenpanzerwagen und Raketenwerfer in die [besetzten] Teile der Regionen Donezk und Luhansk verlegt, um seine Stellvertreter-Kräfte militärisch zu stärken – offenbar für eine neue Offensive, wie Adrian Karatnycky vom Atlantic Counil am 12. November angemerkt hat. Der Donezker Rebellen-Ministerpräsident Aleksandr Sachartschenko hat geschworen, diejenigen Teile dieser Provinz wieder einzunehmen, die ukrainische Truppen in ihrer Sommeroffensive zurückgewonnen hatten. Aber auch andere Hardliner unter den russischen Nationalisten bedrängen Moskau, viel weiter zu gehen – mit der Eroberung eines großen Teils der südlichen Ukraine, um einen Landkorridor zur russisch besetzten Krim und vielleicht auch nach Transnistrien zu öffnen, der russisch-kontrollierten militarisierten Enklave in der Republik Moldau.
Girkins Kriege: Bosnien, Tschetschenien, Moldau, Ukraine
Girkin hat die Behauptung von Putin gegenüber westlichen Politikern, die Ukraine sei gar kein richtiges Land, wiederholt. Gegenüber Neyromir-TV sagte der Offizier im letzten Monat: “Im Idealfall wären in der Zukunft alle russischen Menschen vereint – d.h. die Ukraine, Weißrussland und Russland wären ein Land.”
Girkin hat sich in Interviews als gebürtiger Moskowiter bezeichnet, der in Transnistrien in den 1990er Jahren für Russland gekämpft habe, und dann in Bosnien für serbische Streitkräfte. Er diente bei den russischen Truppen in den Tschetschenien-Kriegen und schied nach eigenen Angaben Ende März 2013 aus dem aktiven Dienst beim wichtigsten Geheimdienst Russlands, dem FSB, aus. Er sagt, er sei jetzt Oberst der Reserve und habe andere russische nationalistische “Freiwillige” angeführt, als Russland im Februar die Halbinsel Krim besetzte. Danach zog er im April in die Region Donezk und wurde Verteidigungsminister der “Donezker Volksrepublik” und Kommandeur einer Miliz in der Provinzstadt Slawjansk.
Im August wurden Girkin und andere russische Staatsbürger aus der nach außen sichtbaren Führung in der Donezker Rebellenbewegung entfernt, und tatsächlich aus Donezk stammende Leute wurden an ihrer Stelle benannt. Das weniger sichtbare Kommando über die Rebellenmilizen und Sicherheitsoperationen wurde etwas konsolidiert und Beamten übertragen, die vielleicht etwas zuverlässiger unter Moskaus Kontrolle standen als Girkin das war. Dazu gehört Wladimir Antjufejew, ein hochrangiger russischer Geheimdienstoffizier, der seit Jahren die russischen Sicherheitsoperation in Transnistrien steuerte.
Putins Berater Wladislaw Surkow
In den neuen Interviews von Girkin war Kritik an anderen Anführern im Konflikt enthalten, die die Zersplitterung der Unterstützung deutlich macht. Letzten Monat beschuldigte er den Putin-Berater Wladislaw Surkow der Veruntreuung der von der russischen Regierung zugewiesenen Mittel für Hilfen für die lokale Bevölkerung in Südossetien (und für die Förderung der Unterstützung für Russlands Rolle), das russische Truppen im Jahr 2008 besetzt haben. Surkow ist auch für russische Hilfsgelder für den Donbas zuständig, sagte Girkin, und werde wahrscheinlich das gleiche wieder tun. In einem heute [18.11.2014] von der russischen Nachrichten-Website Gazeta (“Gazette”) veröffentlichten Interview wiederholt er die Kritik an Surkow und zeigt seine “Enttäuschung” über die drei Monate der Amtsführung des Donezker “Ministerpräsidenten” Sachartschenko.
Aber der Tenor Nachricht Girkins ist, dass Russland nicht genug tut, um die Ostukraine komplett zu übernehmen. Ende Oktober kündigte er in einer Pressekonferenz bei Neyromir, einem von Russlands vielen Kreml-treuen Internet-Video-Kanälen, die Einführung einer Bürgerbewegung zur Unterstützung von Neurussland an, dem zarenzeitlichen Namen für eine Schneise in der südlichen und östlichen Ukraine, die über die beiden jetzt im Krieg befindlichen Regionen Donezk und Luhansk weit hinausgeht. Girkin, jetzt in Anzug und Krawatte statt Tarnanzug, wie er in der Ukraine auftrat, bezeichnete seine Kampagne als ausschließlich humanitär, das Ziel sei, den Ukrainern und ihren Familien zu helfen, die gemeinsam mit den pro-russischen Streitkräften kämpfen.
Auf der Moskauer FM-Radiosender Govorit ‘Moskwa (“Hier spricht Moskau”) wiederholte Girkin die nationalistische Auffassung, dass die Bevölkerung der Ostukraine “russisch” sei, auch wenn viele dort erkennbar ukrainischer Abstammung sind, oder dass sie “den Kontakt mit Russland verloren” hätten. Er forderte den Kreml zu einer formellen Anerkennung und mehr Unterstützung für die pro-russischen “Republiken” auf und sagte, “Russland ist verpflichtet, diejenigen zu schützen, die sich für Russland erhoben haben. Es hat einfach die Pflicht, dies zu tun.”
“Gehorsamspflicht”
Der Interviewer der Rundfunkstation bat in einer Telefonumfrage die Hörer um Antwort auf die Frage: “Soll Russland die Separatisten im Donbas militärisch unterstützen?” 61% antworteten, innerhalb der nächsten Minuten mit “Ja”, während 39 % dagegen waren. Dies scheint das von Girkin angesprochene nationalistische Publikum von Hardlinern zu unterstützen; eine letzte Woche veröffentlichte Meinungsumfrage des in Moskau ansässigen angesehenen Levada-Zentrums ergab, dass nur 13 % der Russen es unterstützen würden, wenn ihre Angehörigen in den Krieg in der Ukraine ziehen würden, während 68 % angaben, dass sie alles tun würden, um ihre Familienmitglieder von der Teilnahme abzuhalten.
Girkin räumte in einem Interview mit der Internet-News-Webseite Swobodnaja Pressa (“Freie Presse”) ein, dass er im April eine ebenso reibungslose und unblutige russische Übernahme der Region Donbas erwartet habe, wie das bei der kurz zuvor abgelaufenen Besetzung der Krim durch Russland der Fall gewesen war, bei der Girkin ebenfalls teilgenommen hatte. “Ich hatte vor, alles wie auf der Krim zu tun, ich hoffte, dass alles nach dem Krim-Szenario abläuft. Wir wollten helfen, eine Volksherrschaft mit lokalen Führern zu etablieren, ein Referendum abhalten und eine Vereinigung mit Russland durchführen.” Im Juni beklagte sich Girkin darüber, dass es ihm im Donbas nicht gelang, eine nennenwerte Zahl von einheimischen Männern zu überreden, vor allem jungen Männern, um gegen die Ukraine Krieg zu führen. Auf die jetzt gestellte Frage, warum der Donbas-Konflikt nicht zu in einem beliebten, pro-russischen Aufstand geführt habe, konnte er keine schlüssige Erklärung abgeben. Einer Sache ist er sich jedoch sicher: Russland habe nie genug Unterstützung gegeben.
Girkin liefert nur Ansätze einer Antwort darauf, wie “offiziell” seine Missionen in der Ukraine in diesem Jahr waren. Der Swobodnaja-Pressa-Chefredakteur Sergej Schargunow fragte ihn, ob die russische Regierung Girkin als Reserveoffizier unmittelbar angewiesen habe, seinen Krieg gegen die Regierung in Kyiw zu führen. “Nein, natürlich nicht”, antwortete Girkin. Er begründet seinen Abzug aus dem Donbas im August mit seiner Unzufriedenheit, dass Russland damals Verhandlungen über einen Waffenstillstands im Donbas führte (wenngleich die Kampfhandlungen durch nur beschränkt und nicht angehalten wurden). Die russischen Behörden setzten ihn unter Druck, zu gehen, sagt er, und “alles, was ich sagen kann, ist, dass ich mich dem nicht sehr energisch widersetzt habe. Schließlich bin ich ein russischer Offizier der Reserve, und auch wenn ich mit einer bestimmten politischen Entscheidung Russlands nicht einverstanden bin, bin ich immerhin verpflichtet, ihm zu gehorchen.”
Autorin: Irena Tschalupa
Quelle: The Atlantic Council
Übersetzung: Euromaidan Press auf Deutsch
Titelbild: Der russische Oberst Igor Girkin spricht im Sommer 2014 auf einer Pressekonferenz, als er noch “Verteidigungsminister” der Donezker Volksrepublik war, deren Flagge hinter ihm hängt. (TV-Screenshot der DVR)