Der Westen hat Russland nicht provoziert. Russland bekam mehr Vorschusslorbeeren, als es verdiente.
Von Anne Applebaum, Slate, 17. Oktober 2014
LONDON – Schaut man auf das vergangene Vierteljahrhundert zurück, so ist es nicht leicht, etwas an der Politik des Westens zu finden, das zurecht als Erfolg beschrieben werden kann. Der Einfluss westlicher Politik ist diskussionswürdig. Die westlichen Interventionen im Nahen Osten waren ein Desaster.
Doch ein Teil westlicher Politik ragt als phänomenaler Erfolg heraus, besonders, wenn man ihn an den niedrigen Erwartungen misst, mit dem er begonnen wurde: die Integration von Ost-Mitteleuropa und den baltischen Staaten in EU und NATO. Dank dieses doppelten Projekts haben mehr als 90 Millionen Menschen für mehr als zwei Jahrzehnte relative Sicherheit und relativen Wohlstand genossen – und das in einer Region, deren historische Instabilität half, zwei Weltkriege zu entfesseln.
Diese beiden sogenannten „Expansionen“, die parallel verliefen, aber nicht identisch sind (einige Länder sind Mitglied der einen Organisation jedoch nicht der anderen, waren umgestaltend, denn sie waren keine direkten Sprünge, wie der Begriff „Expansion“ impliziert, sondern langsame Verhandlungen. Bevor sie der NATO beitreten konnten, hatte jede Nation eine zivile Kontrolle seiner Streitkräfte zu etablieren. Bevor sie der EU beitreten konnten, hatte jedes Land Gesetze zu Handel, Rechtsprechung und Menschenrechten zu verabschieden, Als Ergebnis davon wurden sie Demokratien. Das war „Werbung für die Demokratie“, wie niemals zuvor und niemals seitdem.
Doch Zeiten ändern sich, und die wunderbare Transformation einer historisch unstabilen Region wurde zur Alltagsrealität. Anstatt den 25. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer zu feiern, ist es jetzt angesagt, die Auffassung zu vertreten, dass diese Expansion, und insbesondere die der NATO, ein Fehler war. An dieses Projekt „erinnert“ man sich unkorrekterweise als Ergebnis des amerikanischen „Triumphalismus“, das Russland irgendwie gedemütigt habe, indem es westliche Institutionen in dessen gebrechliche Nachbarschaft gebracht habe. Diese These basiert üblicherweise auf revisionistische Thesen, die durch das russische Regime gefördert werden – und sie ist falsch.
Für’s Protokoll: Niemals wurden Verträge unterzeichnet, die die Expansion der NATO untersagen. Es wurden keine Versprechen gebrochen. Es kam auch kein Anstoß für die Expansion der NATO von einem „triumphalistischen“ Washington. Im Gegenteil: Polens erste Bemühungen 1992, sich zu bewerben, wurden zurückgewiesen. Ich kann mich noch sehr gut an den Ärger des damaligen US-Botschafters erinnern. Doch Polen und die anderen blieben hartnäckig, um genau zu sein, weil sie bereits den russischen Revanchismus kommen sahen.
Als die langsame, vorsichtige Expansion schließlich stattfand, wurden konstante Anstrengungen unternommen, Russland zu beschwichtigen. In den neuen Mitgliedsstaaten wurden keine NATO-Basen errichtet, und bis 2013 wurden dort auch keine Übungen abgehalten. Eine Vereinbarung zwischen Russland und der NATO sicherte 1997 zu, dass die Stationierungsorte der Atomwaffenbasen nicht verändert würden. Der NATO-Russland-Rat wurde 2002 gegründet. Als Antwort auf den Einspruch Russlands wurde der Ukraine und Georgien die NATO-Mitgliedschaft 2008 verwehrt.
Seitdem: nicht nur wurde Russland während dieser Periode nicht „gedemütigt“, de facto wurde ihm ein „Großmachtstatus“ zugebilligt mit dem sowjetischen Sitz im UN-Sicherheitsrat und sowjetischen Botschaften. Russland erhielt außerdem die sowjetischen Nuklearwaffen, von denen einige 1994 aus der Ukraine verlegt wurden als Gegenleistung dafür, dass Russland die Grenzen der Ukraine anerkannte. Die Präsidenten Clinton und Bush behandelten beide ihre russischen Gegenüber als gleichberechtigte Vertreter einer „Großmacht“ und luden Russland ein, der G8 beizutreten, obwohl sich Russland, weder eine große Volkswirtschaft noch eine Demokratie, sich dafür nie qualifiziert hat.
Während dieses Zeitraums hat Russland, im Gegensatz zu Osteuropa, niemals versucht, sich entlang europäischer Linien zu transformieren. Stattdessen haben ehemalige KGB-Offiziere mit deutlich zum Ausdruck gebrachter Loyalität zum Sowjetsystem im Schulterschluss mit dem organisierten Verbrechen den Staat übernommen und trachten danach, die Ausbildung demokratischer Institutionen zu Hause zu verhindern und diese Institutionen im Ausland zu unterminieren. Während des vergangenen Jahrzehnts hat die Kleptokraten-Clique auch versucht, ein Imperium wiederherzustellen. Dazu setzte sie alles ein: angefangen mit Cyberangriffen auf Estland bis hin zu Militärinvasionen von Georgien und nun auch der Ukraine, und dies in offener Verletzung des Budapester Memorandums von 1994 – genauso, wie die osteuropäischen Staaten das befürchtet hatten.
Wenn wir uns einmal daran erinnern, was genau in den vergangenen zwei Jahrzehnten passiert ist, und die russische Version nicht akzeptieren, sondern das Gegenteil davon, sehen unsere eigenen Fehler gleich ganz anders aus. 1991 war Russland längst keine Großmacht mehr, weder in Bevölkerungs- noch in ökonomischen Begriffen. Somit: warum haben wir damals die Realität nicht anerkannt, die UN reformiert und den sowjetischen Sitz im Sicherheitsrat an Indien, Japan oder sonst wen übergeben?
Die Krise in der Ukraine und die Aussicht auf eine weitere Krise in der NATO selbst, ist kein Resultat unseres Triumphalismus, doch eines unseres Scheiterns auf Russlands aggressive Rhetorik und seine Militärausgaben zu reagieren. Warum haben wir die NATO-Basen nicht schon zehn Jahre früher nach Osten verlegt? Unser Scheitern darin hat zu einem schrecklichen Vertrauenseinbruch in den Ländern Osteuropas geführt. Länder, die früher bestrebt waren, in der Allianz mitzuarbeiten, haben jetzt Angst. Eine Reihe von russischen Provokationen bringen die baltischen Staaten aus der Fassung: die Verletzung des schwedischen Luftraums, die Entführung eines estnischen Geheimdienstoffiziers.
Unser Fehler war nicht, dass wir Russland gedemütigt hätten, sondern dass wir Russlands Potenzial unterschätzt haben, Unruhe zu stiften. Wenn die einzige westliche Errungenschaft des letzten Vierteljahrhunderts nun bedroht ist, dann, weil wir es versäumt haben, sicherzustellen, dass die NATO in Europa das tut, was sie tun sollte: abschrecken. Abschreckung ist keine aggressive Politik, sie ist Verteidigungspolitik. Damit sie funktioniert, muss Abschreckung real sein. Sie erfordert Investitionen, Stärkung und Unterstützung vom Westen als Ganzes, besonders den Vereinigten Staaten. Ich tadle den amerikanischen Triumphalismus gerne für so Manches – doch ich wünsche mir, in Europa gäbe es mehr davon.
Titelbild: DDR-Bürger klettern am 10. November 1989 auf die Berliner Mauer, um die Öffnung der innerdeutschen Grenze zu feiern. Photo: Str Old/Reuters
Autorin: Anne Applebaum
Quelle: Slate
Übersetzung: Euromaidan Press auf Deutsch