von: Charkiwer Menschenrechtsgruppe
Die respressiven Maßnahmen gegen die ältere Aktivistin, die Todesfälle russischer Soldaten in der Ukraine enthüllte, gehen weiter
Ljudmila Bogatenkowa, die 73-jährige Vorsitzenden des regionalen Ausschusses der Soldatenmütter in Budjonnowsk (Region Stawropol) wurde am Montag, den 20. Oktober, aus der Haft entlassen. Der Grund für diese scheinbar humane Entwicklung ist leider nur als extrem zynisch zu bezeichnen: Bogatenkowas Gesundheitszustand ließ die Behörden befürchten, dass sie die Haft nicht überleben würde, und weil ihre Festnahme bereits weltweit große Aufmerksamkein in den Medien erhalten hatte.
Wie hier schon früher berichtet, haben Ljudmila Bogatenkowa und ihr Ausschuss aktiv die Todesfälle russischer Wehrpflichtiger und Vertragssoldaten in der Ukraine untersucht. Das massive Vorgehen gegen Bogatenkowa begann am 17. Oktober mit der Durchsuchung der Räumlichkeiten des Ausschusses der Soldatenmütter. Dabei fand sich nichts, was berechtigterweise für die Polizei von Interesse sein könnte.
Bogatenkowa war nach Hause in ihre Wohnung zurückgekehrt, als die Ermittler erschienen und sie wegen des Verdachts auf “Betrug in besonders großem Ausmaß” verhafteten.
Ein Gericht ordnete am 18. Oktober die Untersuchungshaft gegen die 73-Jährige an, die sich aufgrund einer Reihe von schweren Krankheiten in einem schlechten Gesundheitszustand befindet und täglich Medikamente einnehmen muss. Als ob das nicht genug wäre, wurde sie mit dem Auto nach Pjatygorsk gebracht, einer rund 140 Kilometer entfernten Stadt. Dort weigerten sich jedoch die Beamten im Untersuchungsgefängnis, sie aufzunehmen, weil ihr Zustand lebensbedrohlich war. Trotz dieser vernichtenden Kritik gegen das russische Gericht, das den Untersuchungshaftbefehl gegen sie ausgestellt hatte, wurde sie noch weitere zwei Nächte in einer Zelle in einer Polizeiwache in Budjonnowsk fesgehalten.
Bogatenkowa hatte sich geweigert, den Rechtsanwalt zu akzeptieren, den die Ermittler ihr zur Verfügung gestellt hatten, sie bestand auf einen Verteidiger eigener Wahl. Ihr Anwalt Andrej Sabinin war am Montag nach ihrer Freilassung bei ihr. Er berichtete gegenüber dem Fernsehsender Doschd, dass sie sich wegen Bluthochdruck in einem sehr schlechten Gesundheitszustand befinde und ein Krankenhausaufenthalt notwendig sein könnte. [Nachtrag: Am Dienstag, 21. Oktober, musste Ljudmila Bogatenkowa in die Kardiologieabteilung eines Krankenhauses eingeliefert werden.]
Sabinin sagt, dieser sei Fall insofern einzigartig, da Ermittler zwar das Recht haben, eine Person aus der Haft zu entlassen auszustellen, gegen Ljudmila Bogatenkowa aber am Samstag von einem russischen Gericht die Untersuchungshaft angeordnet wurde, sie dann jedoch am Montag durch die Ermittlern auf freien Fuß gesetzt wurde. Er glaubt, dass die öffentliche Aufmerksamkeit für ihre Festnahme ein Faktor für ihre Freilassung war.
Ljudmila Bogatenkowa wurde nun unter der Auflage, “sich nicht zu entziehen”, auf freien Fuß gesetzt. Sie hat Schwierigkeiten sich ohne Hilfe zu bewegen, und ohne täglich Medikamente würde sie sterben; dies lässt die Vorstellung, sie könnte versuchen, sich zu verstecken, als absurd erscheinen.
Absurd, wie alles übrige in diesem schockierenden Fall.
Wie berichtet, sind Menschenrechtler übereinstimmend der Ansicht, dass Bogatenkowas Festnahme und Inhaftierung ein Akt der Einschüchterung wegen ihrer Arbeit ist.
Mit größter Wahrscheinlich steht dieses außergewöhnliche Vorgehen mit ihren Untersuchungen der Todesfälle in Zusammenhang, denn die russischen Behörden versuchen zu verbergen oder abzustreiten, dass Soldaten und Wehrpflichtige bei den Kämpfen in einem von Russland nicht erklärten Krieg gegen die Ukraine zu Tode gekommen sind. Am 28. August veröffentlichte Bogatenkowas Ausschuss eine Liste von rund hundert gefallenen russischen Soldaten und weiteren dreihundert Verletzten veröffentlicht. Zu der Zeit sagte Bogatenkowa in einem Interview mit TV-Doschd, dass sie die Liste nach Informationen aus verschiedenen Quellen in den Streitkräften zusammengestellt habe, die sie aus offensichtlichen Gründen nicht nennen konnte. Die Liste wurde auch an den Menschenrechtsrat des Präsidenten übermittelt.
Bogatenkowa schickte dem Menschenrechtsrat außerdem Informationen über den Tod von neun Vertragssoldaten aus der 18. mechanisierten Infanteriebrigade.
Sergej Krywenko, Mitglied in diesem Rat, hat deutlich gemacht, dass er und seine Kollegen die Festnahme Bogatenkowas in Zusammenhang sieht mit ihrer Untersuchung der Todesfälle von Soldaten. Er sagte zu, dass er eine Erklärung von der Ermittlungsbehörde einfordern werde.
Auf der Grundlage des Schreibens von Bogatenkowa schrieb Ella Poljakowa, Vorsitzende der NGO der Soldatenmütter von Sankt Petersburg und Mitglied des Menschenrechtsrats, an die zuständige Abteilung des russischen Ermittlungskomitees. In ihren Brief bat sie um eine Überprüfung der Todesfälle von Soldaten im Juli und August und um strafrechtliche Ermittlungen über angeblich tödliche Unfälle oder Selbstmorde von Wehrpflichtigen bei Trainingsübungen.
Poljakowa wies in ihrem Brief auch darauf hin, dass die Behörden solche Untersuchungen selbst hätten einleiten müssen, und warnte davor, dass man sich, falls die militärischen Ermittlungsbehörden die Einleitung solcher Ermittlungen verweigerten, gezwungen sähe, die Informationen darüber in den gleichen Medien zu veröffentlichen, die die Berichte über die gefallenen Soldaten ursprünglich geschrieben hatten. Bisher ist keine Antwort darauf eingegangen.
Geheimhaltung und Täuschung gehen aber weiter. Verwandte werden ganz offensichtlich unter Druck gesetzt, Einzelheiten über den Tod eines Soldaten, oder sogar die Tatsache, dass ein Soldat zu Tode kam, zu verschweigen. Hinterbliebenen Frauen wurde gesagt, ihre Ehemänner hätten das Vertragsverhältnis beim Militär “gekündigt” (wenn sie Vertragssoldaten waren), bevor sie starben. Das hat auch praktische Auswirkungen und beraubt die Witwen, und häufig genug auch die Waisenkinder, der ihnen sonst zustehenden Unterstützungszahlungen. Verwandten wurde gesagt, ihre Ehemänner bzw. Söhne seien zum Beispiel an Herzversagen oder aufgrund Selbstmords gesorben. Die von Moskau verfolgte Linie bleibt konsequent dabei, die Beteiligung der russischen Streitkräfte abzustreiten. Erst wenn man sich absolut gezwungen sieht, anzuerkennen, dass ein russischer Soldat an Kampfhandlungen beteiligt war, – und wenn dies in den Kreml-freundlichen Medien bereits prominent berichtet wurde – wird dann behauptet, er habe “Urlaub” eingereicht habe, um in die Ukraine zu gehen und zu kämpfen.
Nach Angaben von Jelena Wassiljewa, Initiatorin des Projekts Fracht-200 aus der Ukraine nach Russland [russischsprachige Originalgruppe: Груз -200 из Украины в Россию] sind bis Mitte Oktober 4.360 russische Soldaten in der Ukraine getötet worden. Sie sagt, dass das russische Verteidigungsministerium 900 Todesfälle zugegeben hat.
Weil eine Reihe von Journalisten und NGOs sich hartnäckig weigert zu schweigen, kommt es zunehmend zu repressiven Maßnahmen oder Einschüchterungsversuchen, um sie dazu zwingen, ihren Mund zu halten.
Lew Schlosberg, ein Oppositionspolitiker und Journalist in Pskow wurde schwer zusammengeschlagen, nur wenige Tage nachdem er Informationen über Fallschirmjäger aus Pskow veröffentlicht hatte, deren Tod in der Ukraine Russland geheimzuhalten versuchte. Es scheint, dass fast ein ganzes Regiment getötet wurde.
Das St. Petersburger Komitee der Soldatenmütter wurde von Amts wegen als “ausländische Agenten” deklariert, nur wenige Tage nachdem sie Informationen über Soldaten, die in der Ukraine getötet wurden, enthüllt hatten.
Die Anklagen gegen Ljudmila Bogatenkowa und die Tatsache, dass ein russischer Richter bereit war, sie trotz der offensichtlichen Gefahr für ihre Gesundheit und das Fehlen einer objektiven Notwendigkeit für eine solche Maßnahme einer rauen Untersuchungshaft auszusetzen, sprechen für sich.
Bitte helfen Sie mit, die Informationen über diesen Fall zu verbreiten: Die Ermittlungen zu den Todesfällen von russischen Soldaten werden von Moskau eindeutig und mit allen Mitteln zu verhindern versucht, und die mutigen Menschen, die öffentlich darüber sprechen, werden Repressionen ausgesetzt.
Quelle: Charkiwer Menschenrechtsgruppe
Übersetzung: Euromaidan Press auf Deutsch