von Olena Tregub, KyivPost (Übersetzung)
Titelfoto: Die ehemalige Journalistin und Euromaidan-Aktivistin Tetjana Tschornowol (Mitte) wendet sich am 14. Oktober bei den Zusammenstößen mit der Polizei vor dem Parlament in Kyiw an Anhänger der rechtsextremen Parteien. Tschornowol kandidiert bei der am 26. Oktober stattfindenden Parlamentswahl für die Volksfront-Partei. Sie hielt es nicht sonderlich lange als Regierungsbeauftragte zur Bekämpfung der Korruption aus, am 19. August trat sie zurück. Andere aus der “Maidan-Quote” traf nach der Revolution ein ähnliches Schicksal, darunter Pawel Scheremeta als Wirtschaftsminister, Oleh Musyj als Gesundheitsminister, Andryj Deschtschyzja als Außenminister und Stepan Kubiw als Notenbankchef. © Wolodymyr Petrow
Als in der Ukraine im Februar die erste nachrevolutionäre Regierung ernannt wurde, wurden sechs Minister und vier andere wichtigen Akteure, darunter der Chef der Nationalbank und der Vorsitzende des Rats für Nationale Sicherheit und für Verteidigung durch die sogenannte “Maidan-Quote” benannt.
Mit anderen Worten, sie waren Kandidaten der Zivilgesellschaft. Anführer, die auf der Welle der Euromaidan-Revolution prominent geworden waren, durch die Präsident Wiktor Janukowytsch aus dem Amt verjagt worden war.
Sie traten ihre Regierungsämter hoffnungsvoll an, um für Veränderungen zu sorgen. Fast acht Monate später sind jedoch die meisten dieser Politiker von ihren Positionen zurückgetreten, ihre Rücktritte waren manchmal von einem Skandal und manchmal auch von extremer Frustration begleitet. Darüber hinaus hat keiner der Maidan-Beauftragten die in sie gesetzten Erwartungen erfüllt, wobei der Bildungsminister Serhyj Kwit – mit Einschränkungen – als einsame Ausnahme gelten kann.
Zu denjenigen, die schnell wieder aus dem Staatsdienst ausschieden, gehören Tetjana Tschornowol als Anti-Korruptionsbeauftragte, Pawlo Scheremeta als Wirtschaftsminister, Oleh Musyj als Gesundheitsminister, Andryj Deschtschyzja als Außenminister und Stepan Kubiw als Gouverneur der Nationalbank.
“Sie haben die Erwartungen nicht erfüllt, da ihre Situation sehr schwierig war: Der Krieg, das alte Parlament, das Versagen der Wirtschaft und die Tatsache, dass die Ukraine zu viele Reformen zur gleichen Zeit nötig hatte,” sagt der deutsche Politikexperte Andreas Umland. “Für Übergangszeiten kann man erwarten, dass es eine hohe Fluktuation in den politischen Positionen gibt.”
Warum also hatten so viele Reformer nur solch kurze Amtszeiten in der Regierung?
Obwohl jeder dieser Fälle einzigartig ist – einigen von ihnen fehlte die einschlägige Erfahrung für ihre Arbeit, andere sahen einfach keinen Sinn darin, sich mit den zutiefst fehlerhaften und korrupten Regierungsbehörden anzulegen, deren Mitarbeiter häufig sehr resistent gegen Änderungen waren.
Obwohl Aktivisten und Akademiker oft als eine positive Kraft gelten, bedeutet ihr Amtsantritt von außerhalb des herrschenden Systems oft, dass sie Schwierigkeiten bei der Orientierung haben. Das bedeutet auch, sie können nichts daran ändern, sagt Oleksandr Suschko, Forschungsdirektor am Institut für Euro-Atlantische Zusammenarbeit. Eine bemerkenswerte Ausnahme ist der vom Universitätsprofessor zum polnischen Ministerpräsidenten gewordene Leszek Balcerowicz, der sein Amt mit einem gründlich vorbereiteten “Schocktherapie”-Plan antrat, mit dem Polens Wirtschaft aus ihrer Ostblock-Lethargie aufgerüttelt wurde.
Tetjana Tschornowol, Investigativjournalistin und Euromaidan-Aktivistin, kam mit einem reichen Wissen über verschiedene von der politischen Elite der Ukraine entwickelte Korruptionssysteme als Anti-Korruptions-Beauftragte in die neue Regierung. Aber sie erwies sich als nicht in der Lage, diese Schemata zu verhindern und war keine Expertin für Antikorruptionspolitik, meint Suschko. Tschornowol trat im August zurück und begründete dies mit ihrer Frustration und der Unmöglichkeit, die Korruption als Staatsmitarbeiterin zu bekämpfen.
Der jüngste Skandal enstand, als Oleh Musyj als Gesundheitsminister Anfang Oktober abgesetzt wurde. Darja Kalenjuk, die als Leiterin der Antikorruptions-Aktionszentrums die Gesundheitsreform eng beobachtet, sagt, dass Musyj die betrügerischen Ausschreibungsregelungen in seinem Ministerium nicht in den Griff bekam, mit denen sich Insider auf Kosten der Gesundheit der Bevölkerung bereichert haben.
Der ehemalige Minister beklagte sich im Juli gegenüber der Zeitung Ukrajinska Prawda, dass er nicht die Befugnis habe, seine Stellvertreter zu entlassen, insbesondere diejenigen, die betrügerische Angebote durchwinkten und die ursprünglich unter der Protektion von Oleksandr Janukowytsch, dem älteren Sohn des im Exil lebenden ehemaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch, ins Ministerium gekommen waren. “Ich sagte immer: tut etwas, weil Leute wie diese müssten eigentlich im Gefängnis sein,” sagte Musyj.
Kalenjuk sagt jedoch, dass Musyj nicht ausreichend qualifiziert war, um sein Amt auszufüllen und keine Ratschläge von der Zivilgesellschaft annahm. Er war auf der Welle seiner Maidan-Popularität ins Kabinett gekommen. Er war als der “Doktor des Maidan” bekannt; während der Revolution war er einer der führenden medizinischen Koordinatoren. Zum gleichen Zeitpunkt, sagt Kalenjuk, gab es aber hochprofessionelle Kandidaten wie Wolodymyr Kurpita, der derzeitige Leiter der staatlichen Aids-Behörde, der das Gesundheitssystem in- und auswendig kennt und der mit seinem eigenen Team ein viel effektiverer Manager hätte sein können.
Einige der vom Maidan Benannten mussten aufgrund spezifischer Besonderheiten des ukrainischen Regierungssystems gehen, bei dem bestimmte Ämter durch politische Quoten zugeteilt werden oder in die Zuständigkeit des Präsidenten fallen.
Die vom Euromaidan Benannten Andryj Deschtschyzja und Stepan Kubiw, die als amtierender Außenminister bzw. Nationalbank-Gouverneur dienten, wurden beide im Juni bald nach Petro Poroschenkos Amtsantritt als Präsident ersetzt. Deschtschyzja bleibt in Erinnerung wegen seines Versuchs, eine wütende Menschenmenge im Juni vor der russischen Botschaft in Kyiw zu besänftigen, indem er der Menge zustimmte, der russische Präsident Wladimir Putin sei “ein Chujlo” [Anm. d. Übers.: inzwischen weit verbreitetes russisches Schimpfwort, männliches Geschlechtsteil). Deschtschyzja wurde am 13. Oktober zum Botschafter der Ukraine in Polen ernannt.
Suschko vom Instituts für Euro-Atlantische Integration sagt, dass die die fehlende politische Hausmacht die Regierungskarrieren von anderen vom Euromaidan Benannten verkürzt habe. Er stellt das Schicksal des ehemaligen Wirtschaftsministers Pawlo Scheremeta, der sein Amt aus Frustration verließ und über keine starke politische Hausmacht verfügte, in Vergleich zum Stellvertretenden Ministerpräsidenten Wolodymyr Hroysman, der Teil der engeren Zirkels um Poroschenko ist. Scheremeta, sagte, er habe sich oft wie gelähmt und hintergangen gefühlt, und er wurde schließlich durch Waleryj Pjatnitzkyj ersetzt, einem ehemaligen Mitarbeiter Janukowytschs, gegen dessen Ernennung zum Stellvertretenden Minister Scheremeta Widerstand geleistet hatte.
Allerdings betrachtet Scheremeta seine halbjährige Amtszeit nicht als kompletten Fehlschlag. “Wir taten, was wir in dieser kurzen Zeit tun konnten,” sagt der ehemalige Minister, darunter Gesetze, die mehr Transparenz bei der öffentlichen Beschaffung schufen sowie Gewerbegenehmigungen und technische Vorschriften vereinfachten und standardisierten.
Scheremeta und andere entdeckten im Amt, was einige von ihnen “Mafia der mittleren Ebene” nennen – langjährige Ministeriumsbeamte, die erfahren darin sind, mit korrupten Systemen Geld zu verdienen. Viele von ihnen sind stellvertretende Minister oder Leiter der Abteilungen, häufig mit mehr wirklichen Machtbefugnissen als ihre formalen Vorgesetzten.
Oleksandr Piddubnyj, ein früher beim Nationalen Sicherheits-und Verteidigungsrat beschäftiger Journalist, nennt diese Menschen eine “Bürokratie-Kaste”, die “Unberührbaren”, die ihre Wurzeln in der sowjetischen Nomenklatura haben und sich gegenseitig recht gut kennen. Sie halten an ihrem Arbeitsplatz fest, weil die Schattenarbeit ihre Haupteinnahmequelle ist. “Die Bürokraten haben ihren eigenen geschlossenen Club erschaffen, und wenn jemand neu da beitreten will, muss er nach ihren Regeln spielen anstatt zu versuchen, Veränderungen herbeizuführen. Wenn nicht, werden sie einen Neuling rauswerfen,” erklärt Piddubnyj.
Ohne gründliche Verwaltungsreform des öffentlichen Dienstes wird der Erfolg für eine veränderte Regierung eingeschränkt bleiben, meint Ihor Koljuschko vom Zentrums für politische und juristische Reformen. Zu viel vom sowjetischen “von oben nach unten”, antidemokratischen Regierungsstil bleibt erhalten.
Scheremeta, der häufig wegen seiner häufigen TV-Präsenz unter Kritik kam, sagt, dass ein Minister – in einer parlamentarischen Demokratie – mehr mit der Öffentlichkeit kommunizieren sollte, während seine Rolle oft auf die Unterzeichnung endloser Papiere beschränkt war. Darüber hinaus konnte er das Verfahren der Unterschriftsleistung nicht auf seine Stellvertreter delegieren, denn das würde die Unterschrift nach den bestehenden Gesetzen ungültig zu machen.
“Ich sage nicht, dass alle Verwaltungsarbeit dumm ist, aber im Fall des Wirtschaftsministeriums der Ukraine sind das 80 Prozent davon,” sagt Scheremeta.
Und doch reden führende Politiker der Ukraine noch immer von Veränderung.
Bei einem Treffen mit führenden Vertretern der Zivilgesellschaft sagte Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk, dass die Verwaltungsreform auf seiner Agenda ganz oben stehe. Aber er hat nie etwas diesbezüglich getan, erinnert sich Koljuschko vom Zentrum für politische und juristische Reformen. Als langjähriger Regierungsbeamter ist Jazenjuk ein widerstrebender und unwahrscheinlicher Reformer, sagt Koljuschko.
Andere sehen den gleichen Widerstand gegen Veränderungen.
“Ich war überrascht darüber, dass diese Regierung am aktuellen System so sehr festhält,” sagt Scheremeta.
Quelle: Kyiv Post
Autorin: Olena Tregub
Übersetzung: Klaus H. Walter
Bearbeitung: Euromaidan Press auf Deutsch
Über die Autorin:
Olena Tregub ist Journalistin, Pädagogin und Unternehmerin im Bereich der Zivilgesellschaft. Sie ist eine führende Mitarbeiterin beim Projekt zur Beobachtung der Reform (Kyiv Post Reform Watch project), das den Fortschritt der Ukraine nach der Transformation durch den Maidan analysiert.