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Sergej Taruta: Wir brauchen ein klares Verständnis davon, was uns Frieden garantiert

Sergej Taruta: Wir brauchen ein klares Verständnis davon, was uns Frieden garantiert
Article by: Ukrainska Pravda
Translated by: Joerg Drescher
Edited by: Euromaidan Press Übersetzerteam Deutsch

Der Chef der Donezker Gebietsverwaltung, Sergej Taruta, erweckt eher den Eindruck eines Universitätsprofessors als den eines Chefs einer vom Krieg erfassten Region. Doch die Weichheit trügt.

Er kritisiert die derzeitige Ordnung im Land hart und formuliert direkt, was ihm an dem beschlossenen Gesetz zum Sonderstatus einiger Gebiete im Donbas missfällt.

Taruta verfügt über keine privaten Bataillone oder Truppen, aber bei Mariupol steht das kampffähigste Bataillon des Innenministeriums: „Asow“. In den vergangenen zwei Tagen prüfte er, wie sich Mariupol auf die Verteidigung gegen einen russischen Einfall vorbereitet.

„Ukrainskaja Prawda“ erwischte den Gouverneur am späten Abend nach einer Beratung mit Militärs und der Sitzung des Verteidigungsrats der Stadt, um über das beschlossene Gesetz zu sprechen, sowie über die Perspektiven im Kampf gegen eine russische Aggression.

UP: Wie fühlten Sie sich, als Sie erfuhren, dass die Rada das Gesetz über den Sonderstatus des Donbas beschloss?

Taruta: Das war eine große Enttäuschung. Ich war auf dem Weg nach Mariupol und ich hoffte, dass das, um ehrlich zu sein, trotz allem nicht in der Form passiert.

Für mich war es eine extreme Enttäuschung. Ich dachte, dass wenn es wahr ist, wir einfach betrogen und vergewaltigt werden! Es ist wie diese Anekdote über einen Eimer Dreck und eine Vergewaltigung. Wir haben den Dreck gefressen, und wurden dann trotzdem vergewaltigt.

UP: Ist das von der Rada beschlossene Gesetz wirklich ein Wunsch nach Frieden, oder die Folge von Schwäche der Kiewer Regierung mit Zugeständnissen an den Kreml? Ist es ein Rückzug oder eine Einladung zum Dialog?

Taruta: Alle möchten einen Fahrplan, aber der Fahrplan darf nicht das Gefühl aufkommen lassen, dass wir vergewaltigt werden. Ok, wir sind bereit, uns mit der russischen Seite auf einen Kompromiss einzulassen, aber nicht um jeden Preis. “Um jeden Preis” – das ist nicht mein Motto.

UP: Aber haben Sie dem Präsidenten erklärt, dass das gefährlich ist?

Taruta: Der Präsident übernimmt persönlich die Verantwortung für Entscheidungen, aber spricht leider mit niemandem darüber.

UP: Gilt das tatsächlich für alles?

Taruta: Ja, für alles. Anfangs, als er gerade ins Amt kam, sagte ich ihm: Wenn Sie wollen, dass wir ein Team sind, so müssen Sie folgendes verstehen. Wenn wir ein Team sind, so gibt es darin ein Vetorecht. Ein Team ist, wenn alle verstehen, dass jeder eine wichtige Rolle bei allen Entscheidungsfindungen spielt.

Und das, was wir entscheiden, das sind alles Entscheidung des Teams, wir tragen gemeinsam die Verantwortung für Verdienste und Niederlagen. Und ich sagte Pjotr Poroschenko: „Ich bin bereit, Mitglied des Teams zu sein, wenn es Prinzipien gibt. Wir schließen uns heute deshalb zusammen, damit wir schneller das Land aufbauen und lassen die ganzen alten Geschichten hinter uns…“

Vor den Wahlen hatte ich ein Gespräch mit ihm und erzählte alles, einschließlich meiner Ansprüche… Aber das war eine alte Geschichte… Ich sagte: „Wenn ich Mitglied des Teams bin, dann müssen wir aufeinander hören. Es darf keinen einseitigen Monolog geben. Wir brauchen unbedingt einen Dialog.“

Denn als wir uns trafen, erzählte man uns alles, was wir zu tun hätten, und dann gingen wir wieder – das war eine Arbeitsweise, die mir überhaupt nicht lag. Ich habe mich schließlich nicht aufgedrängt, ich fühlte mich in der Wirtschaft wohl und konnte mich dort verwirklichen.

Deshalb kann ich ein Mitglied des Teams sein, aber wir brauchen eine gemeinsame ideologische Basis, und zum Erreichen der Ziele, zu denen wir dann gehen, brauchen wir absolut klare, transparente und ehrlichen Regeln. Und dann können wir unsere Kraft aus dem Verstand aller Beteiligten schöpfen. Aber leider…

UP: Sie formulieren ausgesprochen hart und direkt. Und wenn man Sie danach „zum Gehen“ bewegt?

Taruta: Für meinen Posten gibt es keine Warteliste. Glauben Sie mir, es gäbe bereits seit Langem eine Rotation. Aber ich weiß schon warum man bis heute niemanden als Ersatz gefunden hat: man bekommt nichts, sondern gibt die ganze Zeit nur. Man gibt seine Energie.

Bildlich gesprochen würde ich sagen, dass ich in den letzten 4 Monaten um 5 Jahre gealtert bin. Ich habe die ganze Zeit mit Dingen zu tun, die einen auf heftigste Weise emotional runterziehen. Man gibt alles und kann nicht schlafen. Man kommt spät nachts von der Arbeit, liest, geht um zwei ins Bett und man soll um sieben aufstehen, wacht aber schon um fünf auf – weil sich alles im Kopf dreht und dreht…

Wir hätten uns auf einige Ziele verständigen müssen, kämpfen aber an allen Fronten. Und das ist Wahnsinn. Und natürlich gibt es im [Donezker] Gebiet keine Verständigung, es fallen nur extreme Kosten an, alle arbeiten unter Verschleiß. Meine Aufgabe ist heute nicht nur die eines Gouverneurs, sondern ich habe auch viele andere Verpflichtungen. Deshalb werfen solche Entscheidungen natürlich Fragen auf…

Wenn die Prozedur geheim abläuft, trägt niemand Verantwortung… so wie es jetzt läuft, sagt jeder: „Ich war’s nicht.“ Heute rief mich ein Abgeordneter der Donezker Partei der Regionen an. Ich frage: „Und du weißt, wofür du gestimmt hast?“ „Nein, uns wurde einfach gesagt, dass es mit diesem Präsidenten [mit Putin, Anmerkung UP] abgesprochen ist.“ „Und wenn man Dir gesagt hätte, dass mit dem Präsidenten vereinbart worden ist, dass Deine Familie, Deine Frau oder Deine Tochter vergewaltigt werden, hättest du auch so abgestimmt?“

Das erinnert mich an die Situation nach der Abstimmung vom 16. Januar [als vom ukrainischen Parlament die sog. “drakonischen Gesetze” zur Einschränkung demokratischer Grundfreiheiten durchgewunken wurden; der Üb.] als ich ebenfalls mit einem Abgeordneten der Partei der Regionen sprach. Er sagte mir: „Wir wussten von nichts, Rybak hat auf uns Druck ausgeübt, wir standen unter Zeitdruck, und er sagte: Wir müssen abstimmen, das wurde mit dem Präsidenten so vereinbart, er hat dreimal angerufen.“ Und wir stimmten ab. Jetzt werden wir nie wieder so abstimmen.“

Heute kam die Erinnerung daran zurück, als ich von der geheimen Abstimmung über das “Gesetz für den Donbas” hörte. Warum werden solche Entscheidungen hinter verschlossenen Türen gefällt? Tatsächlich betrügen sie das ganze Volk. Das geht nicht! Wir wollen anders und neu sein, und weiter solche alten Methoden anwenden?

Kurz vor der Abstimmung rief der Präsident die Fraktionschefs zu sich. Die Fraktionschefs glaubten, dass sie im Namen des Volkes sprechen könnten. Aber tatsächlich hat sie niemand dazu bevollmächtigt. Man sollte doch erstmal mit der Zivilgesellschaft darüber sprechen…

UP: Sie sagten bei der Pressekonferenz, dass Sie 50 Fragen zu diesem Gesetz hätten. Was gefiel Ihnen vor allem nicht? Wo lag das Hauptproblem?

Taruta: Ich erkenne in diesem Dokument kein Gesetz. Ich sehe darin nur eine Ansammlung von Deklarationen, die wir insgesamt noch sehr ausführlich besprechen müssen, und da gibt es noch viele problematische Aspekte.

Aber das Wesentliche ist, dass wir noch keine Antworten auf unsere Fragen gefunden haben. Uns wurde etwas über den „Sonderstatus der Wirtschaft“ gesagt. Jetzt sehen wir, dass das Dokument vor allem eine Legitimierung dieser Entitäten ist, die von der Generalstaatsanwaltschaft bisher als terroristische Organisationen eingestuft wurden. In dem Gesetz ist ja kein „Ablasshandel“ für diese Organisationen vorgesehen.

Außerdem sehe ich, dass einige Regelungen in dem Dokument einfach nicht arbeitsreif sind. Ja, man kann es als Wunsch verstehen, einen Friedensplan zu beschreiben – ich bin auch für Frieden. Aber nochmals, damit es klar verständlich ist, dieser Frieden muss uns garantiert werden. Deshalb muss es eben auf einem ganz anderen Niveau unterschrieben werden, und erst danach kann das Parlament eine Entscheidung treffen.

Aber wenn es keine Garantie gibt, wenn wir nicht verstehen, ob morgen geschossen wird oder nicht, oder ob morgen Mariupol angegriffen wird oder nicht? Wie sollen wir zusammen leben und uns anfreunden, sie haben doch gemordet! Darunter waren auch viele meiner Freunde und Bekannten, sie haben meinen Assistenten gepeinigt… Und wir müssen jetzt allen alles verzeihen? Das sieht dann so aus: wer peinigte, wer beraubte… der darf jetzt frei herumlaufen? Sie haben in der Vergangenheit Autos gestohlen, und jetzt konfiszieren sie immer noch Autos.

Lauter Fragen, und keine Antworten.

UP: Nehmen wir die Situation der Polizei…

Taruta: Das ist eins. Aber für mich ist sie nicht einmal das wichtigste. Für mich ist die Grenze die vorrangige Frage. Mir scheint, dass die Grenze die Grundlage ist. Wo verläuft die Grenze zur Ukraine? Sie behaupten, gesagt zu haben dass die ukrainische Grenze eine rote Linie ist, über die Russland nicht gehen darf. Wenn es richtig ist, dass es eine rote Linie gibt, wie verteidigt man diese rote Linie? Mit welchen Mechanismen wird sie geschützt? Ich muss das verstehen. Wenn es eine internationale Regelung zum Schutz dieser Grenze gibt, dann ist alles übrige in Ordnung. Damit kann man sich abfinden.

Alles andere folgt aus der Entscheidung über die Grenze. Man braucht bis dorthin eine halbe bis eine Stunde. Ich bin mit dem Fahrrad jeden Tag 100 km gefahren, bis zur Grenze brauchte ich vielleicht 1h15 oder 1h20. Aber sie fahren schneller. Deshalb könnten sie in einer oder sogar in einer halben Stunde hier sein. Aber werden sie herkommen oder nicht? Haben wir eine Antwort darauf? Nein.

UP: Bedauern Sie nicht, dass Sie sich in diesen Kampf eingemischt haben? Hätten Sie zum Beispiel nicht irgendwo in Kiew abwarten können…

Taruta: Nein. Sie müssen verstehen, wenn das Land in Gefahr ist, müssen wir alle zusammenstehen. Viele Leute gingen auch auf den Maidan. Freunde von mir gingen dorthin, und es war schrecklich. Niemand wusste, ob sie von dort lebendig zurückkommen oder nicht. Sie gingen dorthin bis zum bitteren Ende, um die Zukunft ihres Landes zu schützen, und letztlich dachte niemand an sich selbst.

UP: Wir fuhren durch Mariupol und sahen, dass die Stadt weiter befestigt wird. Warum Mariupol verteidigen und drei Verteidigungsringe bauen? Eigentlich beginnt doch bereits der Frieden…

Taruta: Bisher sehe ich keinen Weltfrieden. Und Frieden im Donbas sehe ich auch nicht. Wir brauchen einen klaren Fahrplan, wie wir zu diesem Frieden kommen und Garantien, dass uns niemand angreift.

Hier, ganz in der Nähe, gibt es Leute, denen man ansieht, dass sie überhaupt nicht auf einen konstruktiven Dialog aus sind. Einige sprechen sogar sehr schlecht russisch. Sie sprechen nur in irgendeinem eigenen kaukasischen Dialekt.

Damit es klar wird: Zuerst gab es bei uns solche, die wir Separatisten, DVR-ler nannten [DVR = “Donezker Volksrepublik”]. Vor ihnen gingen Babuschkas [Großmütterchen] mit Ikonen, manche dieser Babuschkas kamen mit Kindern. Diese Babuschkas hatten zwar einen aggressiven Blick, aber sie waren eigentlich nicht ideologisch, man hatte sie einfach sorgfältig manipuliert. Dann gab es junge Frauen, offenbar drogenabhängig, dann noch drogenabhängige Männer, und hinter ihnen schritten bereits die Verteidigungskräfte – junge „Tituschkis“ [gewaltbereite Halbstarke] in Schutzmontur und mit Steinen.

Manchmal fragt man, warum die Polizei gegen sie nicht ankam. Die Polizei kann gegen so eine Kombination nicht ankommen, wenn sie nicht über grundlegende Mittel zur Vertreibung gewaltbereiten Demonstranten verfügt. Das war die erste Phase.

Wir haben das alles ideologisch geklärt, haben die Gemüter beruhigt. Wir arbeiteten bis um ein, zwei Uhr nachts, trafen uns mit allen und haben ihre Hirne “ausgetauscht”.

Dann begann man, Söldner zu schicken, die wir Terroristen oder Kämpfer nannten. Diese Leute waren dann schon aus dem Kaukasus, es waren aber auch gelegentlich Organisatoren aus unserer geliebten Bruderrepublik dabei.

Dann, als das auch nicht funktionierte, und wir mit ihnen fertig wurden, begann man, Kolonnen mit Militärtechnik und Kolonnen mit Systemen für Flächenbombardements zu schicken. Es kamen viele Soldaten und paramilitärische Kämpfer. Jetzt haben sie die in neue Kleider gesteckt. Diese Gruppe wuchs ständig an, unter anderem dank der Genossen aus dem Kaukasus. Hier gab es übrigens leider auch Serben, unsere Brüder, sowie Syrer.

Diese Söldner haben es sehr gut verstanden, sich als DVR-ler auszugeben. Wie man sieht, kaufen sich die DVR-ler seelenruhig Systeme für Flächenbombardements, wie z.B. “Grad”, und die Welt merkt es nicht.

 

 

Translated by: Joerg Drescher
Edited by: Euromaidan Press Übersetzerteam Deutsch
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