In den vergangenen Tagen und Wochen, nach einem kurzen Blick auf russische Fernsehsender (ich habe auch in meinem Hotel in Straßburg einen, um mich nicht von der störenden Komplexität unseres Lebens in der EU und in der Umgebung entspannen zu können – vor allem beim Vergleich der russischen Programme mit BBC News oder dem französischen Fernsehen) war es schwierig, ein Déjà-vu-Gefühl loszuwerden. Jede einzelne Information über die Ukraine ist auffälligerweise und erschreckend dem ähnlich, was ich damals sofort nach dem 13. Januar 1991 mir hatte anhören müssen, als die sowjetischen Truppen in Vilnius (Wilna) vierzehn friedliche Zivilisten getötet hatten.
Als Litauen am 11. März 1990 seine Unabhängigkeit erklärte, war das nur der Anfang eines langen und kurvenreichen Wegs der ersten abtrünnigen Republik der ehemaligen Sowjetunion. Das Land erlebte eine turbulente Zeit voller Unsicherheit, Unwägbarkeiten und Zweifeln, was die logische Folge der Bedrohung war, die Litauen für das tödlich verwundete und langsam sterbende Reich darstellte. Doch würde der höchste Preis noch kommen. Und es geschah am 13. Januar, als vierzehn Menschen ihr Leben verloren und die Sowjetunion des Restes ihrer politischen und moralischen Legitimität beraubten.
Obwohl friedliche und unschuldige Menschen getötet wurden, gab es nicht den geringsten Vorwurf gegen Russland oder die Russen als Nation. Jeder verstand, dass nur die UdSSR der Name des Bösen war. Die Reaktion des Kreml hatte nichts mit den Gefühlen der russischen Intelligenz zu tun, und erst recht nicht mit den furchtlosen und edelgesinnten russischen Dissidenten. Unmittelbar nach dem Blutvergießen in Vilnius kam eine Gruppe russischer Schriftsteller und Akademiker nach Litauen, um ihre Sympathie für die Litauer auszudrücken, gekoppelt mit ihrer Bestürzung über die Kreml-Aktionen. Unter ihnen war auch Sergej Averintsev, der bedeutende russische Kulturhistoriker und Dichter verlas sein Gedicht auf Vilnius als die Stadt der Freiheit, auf deren Steinen das Blut unschuldiger Menschen vergossen worden war.
Doch es gab noch eine andere Seite der Medaille – die offizielle Reaktion von Hofjournalisten und verschiedener Gruppen von Speichelleckern, die sogar so weit gingen zu behaupten, dass litauische Scharfschützen ihre eigenen Landsleute getötet hätten, um so den friedlichen und progressiven Kreml ins schlechte Licht zu rücken und zu diskreditieren – der gleiche Kreml, dessen Meister zu dieser Zeit in Oslo den Friedensnobelpreis für seine “humane Politik” entgegennahm.
Der Punkt ist jedoch, dass Litauen ihm die Show verdarb – genauso wie der Maidan die Olympischen Spiele in Sotschi verdarb für den neuen Meister des Kreml und tatsächlichen Ideengeber der Olympischen Spiele, der diese als einen Höhepunkt in der Geschichte Russlands und als scheinbares Comeback des Landes in den Club der mächtigsten und bedeutende Global Player inszeniert hat. Garry Kasparov hat es auf den Punkt gebracht, als er darauf hindeutete, dass Wladimir Putin im Interesse von Goldmedaillen seinen imperialen Chauvinismus gerne geopfert hat, nämlich beim Kauf ausländischer Talente und dem Angebot der russisches Staatsbürgerschaft. Nach Kasparow hätte auch Adolf Hitler, wäre er denn in seiner verrückten rassistischen Mythologie weniger fanatisch gewesen, im Jahr 1936 genauso Jesse Owens gekauft, um vier Goldmedaillen für Deutschland gewinnen zu können. Ich wünsche mir, dass in Sotschi viele homosexuelle und lesbische Sportler und Sportlerinnen mit stolzer Betonung ihrer Identität und sexuellen Orientierung Goldmedaillen gewonnen haben – denn für Putin sind homosexuelle oder lesbische Sportler das, was Owens für Hitler war.
Wenn man russisches Fernsehen sieht und die Kommentare von Staatsbeamten und Kulturschaffenden liest, kann man nicht umhin, sich in der Zeit zurück versetzt zu fühlen. Erstaunlicherweise hat sich in Bezug auf Rhetorik und Wahrnehmung der Realität absolut nichts verändert. Auch wenn die Megaphone des Kreml in den späten 1980er Jahren aggressiv und verbittert darüber tönten, dass die baltischen Staaten sowohl wirtschaftlich und kulturell unweigerlich scheitern werden (“Wer braucht euch denn im Westen?” ), haben sie jetzt erst die Abgründe des Wahnsinns und der Dummheit erreicht – es genügt zu erwähnen, dass der faschistische politische Clown Wladimir Schirinowski eine Kampagne startet für die Sammlung von militärischen Freiwilligen, die ihre russischen Brüder in der Ukraine retten sollen, eine groteske Form der Erkundung, wie weit der Kreml gehen kann, um eine Steigerung der Kampfmoral der Hofpatrioten zu erreichen. Der abgenutzte Wortschatz von einigen Schriftstellern und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens erscheint nicht besser als die pathologischen Tiraden Schirinowskis.
Die Ukrainer en bloc als Bandera-Anhänger (Banderovtsy in Russisch), Terroristen, Faschisten, oder sonstwie zu bezeichnen, ist nicht nur moralisch verwerflich. Es zeigt, wie elend, zynisch, fehlgeleitet und falsch verortet der gesamte öffentliche politische Diskurs in Russland ist. Die unverantwortliche und peinlich unangemessene Verwendung des Begriffs “Faschismus” kann nur durch den Zauber der politisch-historischen Überlieferung erklärt werden, die die Bezeichnung aller von der Roten Armee während und nach dem Zweiten Weltkrieg niedergeworfenen Menschen als Faschisten legitimiert und jede Form von Antikommunismus als Faschismus deklariert. Es wäre ernüchternd für diejenigen in Russland, die den vermeintlichen ukrainischen Nationalismus und Antisemitismus ans Licht bringen wollen, wenn sie sich an die dunkelsten Traditionen des Antisemitismus in Russland erinnern müssten.
Alles in allem hat die Logik dieses Bildes eine Ähnlichkeit mit der Logik von Jean Baudrillards Simulacrum: Genauso wie Disneyland die Tatsache versteckt, dass es eben nicht Disneyland ist, das uns mit wunderlichen Dingen ins Erstaunen versetzen sollte, sondern stattdessen die gesamte USA, die ein einziges Disneyland ist. Indem man der Ukraine das Label “faschistisch” anhängt tarnt man den Anstieg des Faschismus in Russland selber. Die russische Gesellschaft kommt durch die Atmosphäre von Hass und Fremdenfeindlichkeit zunehmend dem Faschismus nahe. Gekoppelt mit der homophoben Gesetzgebung und der Niederschlagung der NGOs sowie der Zivilgesellschaft insgesamt, hinterlässt das ein Gefühl der gescheiterten Demokratisierung Russlands. Die Projektion der eigenen Krankheiten und Traumata auf andere hilft nicht viel.
Deshalb ist es ganz entscheidend, diesen bedauerlichen Unterstellungen gegen die Ukraine zu widerstehen, deren Menschen weiterhin an vorderster Front im Kampf für eine menschenwürdige und zivilisierte Politik und gegen die Kleptokraten, den Mafia-Staat und die Vetternwirtschaft stehen und damit alles verteidigen, wofür das moderne Europa steht – darunter auch der Kampf gegen den realen, und nicht den eingebildeten Faschismus.
Quellen:
englisch: http://ukrainianweek.com/Columns/50/104468
ukrainisch: http://tyzhden.ua/Columns/50/104215
(Angaben zum Autor aus Wikipedia, deutsch:http://de.wikipedia.org/wiki/Leonidas_Donskis:
Leonidas Donskis (* 13. August 1962 in Klaipėda) ist ein litauischer Politiker, Geschichtsprofessor und Philosoph. Sein Hauptinteresse liegt unter anderem in der Philosophie der Geschichte, der Kultur, der Literatur, der Moralphilosophie, der Sozialwissenschaften und der Ideengeschichte im zentral- und osteuropäischen Denken.
Seit 2009 ist Donskis Mitglied des Europäischen Parlaments und vertritt für Litauen die Lietuvos Respublikos liberalų sąjūdis. In dieser Eigenschaft ist Donskis Mitglied des Vorstandes der Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa. Als Mitglied ist er in folgenden Ausschüssen und Delegationen tätig: Entwicklungsausschuss, Unterausschuss für Menschenrechte, Delegation in den Ausschüssen für parlamentarische Kooperation EU-Armenien, EU-Aserbaidschan und EU-Georgien und in der Delegation in der Parlamentarischen Versammlung EURO-NEST.