Lilia Schewzowa, russische Politologin und führende wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts “Carnegie Endowment for International Peace” über die Pläne Putins, die ukrainische Korruption und die fünfte Kolonne in der Werchowna Rada (Parlament der Ukraine)
Frage: Kommentieren Sie bitte die Unterzeichnung des “Friedensabkommens von Minsk” und die Verzögerung bei der Umsetzung des Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine und der EU. Hat Putin diese Runde gewonnen?
Lilia Schewzowa: Es geschieht manchmal, dass ein taktischer Sieg sich ganz schnell in eine strategische Niederlage verwandelt. Wenn wir diese Ereignisse nur im Rahmen von “Gewinn und Verlust” betrachten, könnten wir zu der Schlussfolgerung kommen, dass Minsk, und vor allem die verzögerte Umsetzung, wirklich einen Sieg für Putin bedeuten. Er ließ den Westen nach seiner Pfeife eine russische Polka tanzen.
Frage: Aber auf der anderen Seite beschleunigt alles, was Putin jetzt in der Ukraine macht, auf verrückte und dramatische Weise die politischen Prozesse in Russland, die seine Macht untergraben und die Agonie seines Regimes beschleunigen…
Lilia Schewzowa: Ein Blick auf die Vereinbarung Minsk von außen bringt mich zur gleichen Schlussfolgerung, zu der viele ukrainische Beobachter kommen, und das heißt: Es handelt sich um eine erzwungene, taktische Waffenruhe, die von beiden Seiten benötigt wird – von Poroschenko und von Putin.
Frage: Warum brauchen beide Seiten eine Atempause?
Lilia Schewzowa: Die Ukraine hat jetzt sowohl die Option eines militärischen Gegenangriffs gegen Russland als auch die Möglichkeit der militärischen Befreiung der Region Donezk ausgereizt. Die Ukraine ist ausgeblutet.
Und Putin braucht auch einen fixierten Waffenstillstand. Und nicht, weil ihm zur Zeit die militärisch-technischen Ressourcen fehlen. Er muss nachdenken, sich umschauen und sehen, was als nächstes zu tun ist. Ein schneller Sieg im Südosten der Ukraine hat nicht funktioniert für ihn, er bekam statt dessen Sanktionen. Die Sanktionen beißen, aber sie sind noch vollends zu verdauen. Sie haben Putins Macht und seine Wirtschaft noch nicht destabilisiert. Aber für Putin ist es im Moment vorteilhafter, zu konsolidieren, sich umzuschauen und vielleicht andere Wege zu finden, um die Ukraine in den Würgegriff zu nehmen.
Wenn wir über die Ergebnisse des Minsker Vertrags für Putin sprechen, dann ist diese Pause nur ein Zeitraum für den Kreml, um auch andere Szenarien zu berücksichtigen. Putins weitere Aktionen in der Ukraine werden immer noch auf die Untergrabung des ukrainischen Staates zielen. Aber man sollte auch verstehen, dass die Ukraine für Putin nur ein Laborversuch ist. Sagen wir es so, sie ist ein Golfplatz für ein Spiel mit dem Westen.
“Wenn die Ukraine sich nach Westen absetzt, nimmt sie die Legitimität des russischen Staates mit und wir bleiben als Moskowiterreich übrig.”
Frage: Und was ist mit der bekannten These “Es gibt kein russisches Reich ohne die Ukraine”?
Lilia Schewzowa: Ja, das auch. Wenn ich darüber [die Ukraine] sage, sie sei “ein Golfplatz für ein Spiel mit dem Westen”, möchte ich damit nicht ein großes Land beleidigen. Es ist nur so, dass das eine das andere nicht ausschließt.
Gerade jetzt mit der Ukraine hält Putin den Westen als Zivilisation im Schach. Der klassische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama lag, wie sich herausstellte, völlig falsch, als er über das Ende der Geschichte sprach – in der Ukraine hat eine völlig neue Ära der Auseinandersetzung der russischen Autokratie mit der westlichen Zivilisation begonnen.
Was nun die These “Ohne die Ukraine gibt es kein russisches Reich” angeht, so beginnt Putin, als ein Mann, der so viel Zeit in den hohen Gängen des Kreml verbracht hat, sich der genetischen Codes der russischen Macht bewusst zu werden. Beim Lesen von Geschichtsbüchern (und er liest Geschichtsbücher) wurde ihm klar, dass es ohne die Ukraine sehr schwierig wird, nicht nur der russischen Orthodoxie sondern auch dem russischen Staat, der ja angeblich von der Kiewer Rus abstammt, eine Legitimität zu geben.
Wenn die Ukraine sich nach Westen absetzt, nimmt sie die Legitimität des russischen Staates mit und wir bleiben als Moskowiterreich übrig, das von unbekannten Völkern besiedelt wurde. Russland müsste dann seine Geschichtsschreibung nicht mit der tausendjährigen Geschichte des Christentums und der Taufe der Rus beginnen sondern mit Andrei Bogoljubski aus dem zwölften Jahrhundert – aber das ist eine ganz andere Geschichte.
Daher ist die Ukraine von größter Bedeutung für Russland. Zuerst einmal bedeutet die Ukraine für Russland eine Verteidigung seiner eigenen Geschichte, und damit seines Staats; zweitens dient sie der Verteidigung der eigenen Legitimität des Kreml; drittens bedeutet sie die Verhinderung eines Maidan in Russland; und viertens handelt es sich um eine Herausforderung für Europa und die westliche Welt. Ihr habt den Schlaf eines gelähmten Europas erschüttert und gesagt: “Hey, schlaft ihr? Und wir sind dabei, für eure Werte zu kämpfen.”
Frage: Wie würden Sie die Position Europas gegenüber der Ukraine im Detail beschreiben?
Lilia Schewzowa: Als Antwort auf eure Appelle sagt euch Europa eigentlich Folgendes: “Wir wollen euch nicht, wir sind nicht bereit für euch.” Das ist die Frage – wird die Ukraine es schaffen, den Westen aufzuwecken oder nicht? Und darin liegt das große Drama der Ukraine. Ihr habt die westliche Welt zu einem Zeitpunkt geweckt, als sie auf euch nicht vorbereitet war, wie sich herausgestellt hat. Im Jahr 1989, als die sozialistischen System der Welt zu zerfallen begannen, war der Westen brennend daran interessiert, die baltischen Staaten, Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei und so weiter zu umarmen. Es gaben Bedingungen für sie, obgleich harte. Man akzeptierte sie in der NATO und in der EU, man half ihnen.
Jetzt lehnt der Westen die Ukraine ab, weil das eine Belastung wäre. Aber es ist die öffentliche Meinung, die anfängt wach zu werden und für euch zu arbeiten beginnt.
Zur Zeit wird der Westen die Ukraine nicht akzeptieren, er ist nicht bereit für euch, ist schlicht nicht einsatzbereit. Heute gibt es in der NATO und in den Hauptstädten nur Gelähmte und politische Zwerge.
Aber die Zwerge sind austauschbar bei den Wahlen, und in zwei oder drei Jahren wird eine neue Generation an die EU-Führung kommen; wenn ihr durchhaltet und nicht von eurem Ziel abweicht, werdet ihr gewinnen.
“Zur Zeit wird der Westen die Ukraine nicht akzeptieren, er ist nicht bereit für euch, ist schlicht nicht einsatzbereit. Heute gibt es in der NATO und in den Hauptstädten nur Gelähmte und politische Zwerge.”
Frage: Wie bewerten Sie die ukrainische Elite? Kann man mit ihr in die Europäische Union gehen?
Lilia Schewzowa: Ihre Elite – und ich deute hier auf niemanden persönlich, ist glaube ich eine Elite des Übergangs. Das sind Menschen aus der Vergangenheit, und selbst wenn diese Elite das Land in die Zukunft führen will, kommt sie immer noch aus der Vergangenheit, sie sieht es als ihre Aufgabe an, den einfach den Brückenkopf zu halten. Solange sie nicht in die Vergangenheit zurückgleitet, sondern die Regierungsgewalt im Land dann ihrer jetzt noch politisch unreifen Generation – der Generation der 30-Jährigen – überträgt. Ihr braucht noch drei oder vier Jahre, bis die Maidan-Generation reif genug ist, um das Land zu regieren.
Frage: Sie sagen, dass der Westen in zwei bis drei Jahren bereit sein wird, die Ukraine zu akzeptieren, wenn wir nicht aufgeben werden. Aber hat die Ukraine diese zwei oder drei Jahre zur Verfügung? Putin hört nicht auf.
Lilia Schewzowa: Putin wird nicht aufhören. Aber niemand kann sagen, was morgen passieren wird. Putins Regime ist in einen Zeitraum der Agonie eingetreten. Aber dieser Todeskampf kann sich noch über eine lange Zeit hinziehen. Die Agonie des Osmanischen Reiches dauerte 300 Jahre. Aber Putin wird diesen Prozess beschleunigen. Putins wirkliche Basis an Vertrauen liegt bei etwa 15%. Er zombifiziert und demoralisiert den Rest auf aktive Weise.
Frage: Werden die Wirtschaftssanktionen das Ende Putins beschleunigen können?
Lilia Schewzowa: Ich betrachte die Wirtschaftskrise in Russland als die Rettung des Landes. Es gibt eine kleine Chance, dass die Wirtschaftskrise die russische Gesellschaft aufwecken wird. Sanktionen verschärfen diese Krise noch, aber es gibt auch hausgemachte Gründe.
Denn es ist jetzt für mich schwer zu sagen, inwieweit die Sanktionen die Krise stärken und vertiefen. Ich würde sagen: Die Sanktionen beschleunigen die Krise, erhöhen die Temperatur ein bisschen, aber zur Zeit sind sie nicht tödlich für das System Putins.
Jedoch könnten die Sanktionen bis zum Frühjahr in der Tat große Schwierigkeiten verursachen. Putin weiß dies, und deswegen will er das Problem der Ukraine in der Zeit zwischen jetzt und dem Frühjahr lösen.
Frage: Auf was sollte sich die Ukraine einstellen?
Lilia Schewzowa: Ihr solltet nicht nur Angst vor einer militärischen Offensive durch russische Truppen haben. Ja, Putin wird euch in den Würgegriff zwingen, weil – unter anderem – die Krim nicht in der Lage ist, den Winter ohne die ukrainischen Ressourcen zu überleben.
Aber während man sich darauf konzentriert, sollte man nicht vergessen, dass das zweite Schlachtfeld in Putins Kampf um die Ukraine die Sphäre der ukrainischen Korruption ist, die Bestechlichkeit der ukrainischen Elite. Russland wird ganz bestimmt bei den ukrainischen Parlamentswahlen mitmischen, es wird Politiker und Oligarchen bestechen. Praktisch alle ukrainischen Oligarchen haben Bereicherungsquellen in Russland.
Frage: darunter der Präsident …
Lilia Schewzowa: Ich gebe keine Kommentare zu einzelnen Personen ab. Russland wird während eures Wahlkampf aktiven Anteil nehmen, und wenn ihr einen Moment lang nicht aupasst, dann habt ihr eine fünfte Kolonne in der Rada (Parlament). Und das ist auch eine Möglichkeit, um Druck auszuüben.
“Man sollte nicht vergessen, dass das zweite Schlachtfeld in Putins Kampf um die Ukraine die Sphäre der ukrainischen Korruption ist, die Bestechlichkeit der ukrainischen Elite. Russland wird ganz bestimmt bei den ukrainischen Parlamentswahlen mitmischen.”
Frage: Gibt es eine Möglichkeit für einen Machtwechsel in Russland außer dem Tod von Putin?
Lilia Schewzowa: Theoretisch. Das ist aber in jedem Fall nicht möglich ohne systemische Krise. Ohne Krise gibt es keinen Regimewechsel über einen Staatsstreich. Und ein Putsch ist unmöglich ohne die Mitwirkung der russischen politischen Elite. Sie sollten nicht denken, dass es diese Elite nicht gibt – doch, die gibt es. Es ist nur so, dass alles, was Putin tut, der Elite insgesamt in den Kram passt. Die haben keinen Bedarf nach allzu vielen Verlusten.
Aber es gibt auch wenig Chancen für die Entstehung einer neuen Figur innerhalb der Machtstruktur. Selbst ein Coup könnte einfach ein betrügerisches Werkzeug für einen Ausweg aus der Situation sein. Das System ist stark genug, so dass ein neuer Herrscher auch bei der theoretischen Möglichkeit der Ersetzung von Putin aus diesem System kommen wird. Er würde sich eine Legitimität verschaffen und möglicherweise mit Modifikationen auf dem gleichen Kurs weitermachen.
Um zu einer neuen Führungspersönlichkeit zu kommen, müssten mehr als nur 15 bis 17 % der Gesellschaft liberale Werte vertreten. Dies wird gebraucht, damit die Gesellschaft nach einer durchlaufenen Krise bereit wäre, in Russland einen Staat auf der Grundlage der Rechtsstaatlichkeit zu schaffen.
Frage: Autoritär, totalitär, oder etwa ein völlig neues Konzept: Wie würden Sie Putins Regime beschreiben?
Lilia Schewzowa: Heute ist die russische Wirklichkeit absolut einzigartig. Ein derartiges politisches Regime hat es noch nie in der Geschichte gegeben, noch nie haben wir unsere Probleme auf diese Weise gelöst.
Frage: Ist Putin autoritärer als Stalin?
Lilia Schewzowa: Ein solches Prätorianer-Regime hat es noch nie in Russland gegeben. Es gab autokratische Regime, aber nie ein Prätorianer-Regime. Moderne Prätorianer – die Streitkräfte kontrollieren nicht nur die Macht- sie sind die Macht. Sie haben ihre eigenen repressiven Ressourcen. Eine solche Regelung kann die Macht nicht freiwillig loslassen. Daher müssen wir – und ihr auch – auf eine extrem schmerzhafte Phase gefasst sein.