Von Julia Ioffe und Linda Kinstler in newrepublic.com
Nach der soundsovielten Invasion Russlands in der Ukraine hören wir auf so zu tun, als ob es je einen Waffenstillstand gegeben hätte.
Sagen Sie uns Stopp, wenn Sie das schon einmal gehört haben: Russische Panzer, gepanzerte Mannschaftstransporter und schwere Artillerie überqueren die Grenze zur Ukraine, von russischen Soldaten in Uniformen ohne Abzeichen begleitet.
Genau das geschah heute, am 12. November 2014, auch – aber nur in dem Sinne, dass es von der NATO berichtet wurde. (Und als Reaktion auf diese vermeintlich neue militärische Lage hat das russische Verteidigungsministerium gerade angekündigt, dass man Langstreckenbomber-Flüge im Golf von Mexiko, in der Karibik und im östlichen Pazifik aufnehmen werde.)
Die Ukraine beschwert sich seit Tagen über genau den gleichen russischen Einfall in seinem Gebiet. Und wirklich, Sie sind entschuldigt, wenn Sie den Überblick verloren haben und beim Zählen der Fälle durcheinander gekommen sind, seit russische Soldaten ohne Erkennungszeichen – denen man den Spitznamen “Kleine grüne Männchen” gegeben hat – zum ersten Mal auf der ukrainischen Halbinsel Krim im Februar aufgetaucht sind. Seit Putin im Frühjahr mit seiner sogenannten hybriden Kriegsführung gegen die Ukraine begonnen hat, ist die Anzahl solcher Invasionen schwammig und schwer zu zählen, und das ist so gewollt. Es soll schwer zu verfolgen und, noch wichtiger, schwer zu bestrafen sein. Wie gehen Sie mit russischen “Freiwilligen” um? Mit Hunderten russischer Soldaten, die gezwungen wurden, Urlaub zu nehmen, um in den Kampf geschickt werden – und mit “humanitären Hilfskonvois“, die nicht dazu da sind, Hilfe zu liefern sondern um die Schwachstellen der russisch-ukrainischen Grenze zu testen?
Warum ist der 549. russische Einfall in ukrainischem Territorium wichtig?
Nun denn, nach Ansicht der westlichen Presse zeigt dies, dass das Waffenstillstandsabkommen vom 5. September, das von der ukrainischen Regierung und den ukrainischen Separatisten unterzeichnet wurde und aufgrund dessen der Westen erleichtert aufatmete, jetzt “zusammenbricht.” Seit seiner Unterzeichnung war dieses Abkommen schon öfter “zerschlagen“, “zweifelhaft“, “angespannt“, “wackelig” und “bröckelnd.” Vor zwei Tagen forderte Washington Moskau auf, den Waffenstillstand zu beachten. Heute fordert Moskau Washington auf, dasselbe zu tun. Schauen Sie doch mal auf die Überschrift der Financial Times vom 9. November: “Schwerster Artilleriebeschuss seit Beginn der Waffenruhe erneuert die Kriegsangst der Ukraine.” Schwerster Beschuss seit dem Waffenstillstand? Wo liegt die Grenze zwischen einem Beschuss, der einen Waffenstillstand verletzt, und einem, der das nicht tut?
All dies setzt voraus, dass die Waffenruhe überhaupt jemals Bestand hatte.
Seien wir ehrlich: Es gab nie eine Waffenruhe.
Praktisch seit dem Tag der Unterzeichnung des Waffenstillstands wurde er verletzt. Nicht einmal, nicht zweimal, sondern ständig, mit einer zermürbenden Routine von Beschuss und Blut. Anfang Oktober, einen Monat nach der Minsker Vereinbarung, berichtete die UN, dass 331 Menschen in den anhaltenden Kämpfen in der ukrainischen Region Donbas getötet wurden.
Zur Erinnerung folgt hier eine Beschreibung des Geschehens, seit der sogenannte Waffenstillstand vor zwei Monaten und sieben Tagen in Minsk unterzeichnet wurde:
- Das ukrainische Militär behauptete, “bis zu 200” Kämpfer der Rebellen wurden in der vergangenen Woche durch Artilleriefeuer getötet.
- Der Stalingrad-ähnliche Kampf um den Flughafen Donezk tobt unvermindert weiter, die glänzende, gerade mal zwei Jahre alte Glas-Konstruktion wurde auf ein verkohltes Skelett reduziert.
- Letzte Woche schlugen Raketengeschosse in einem Donezker Gymnasium ein und töteten zwei Schüler beim Fußball spielen.
- Am Vorabend der Wahlen in den selbsternannten separatistischen Republiken wurden sieben ukrainische Soldaten getötet. Zwei Tage zuvor waren weitere sieben im Kampf getötet worden.
- Ein “Volltreffer” auf die Donezk Chemische Fabrik warf Rebellenführer Aleksandr Sachartschenko buchstäblich von seinem Sitz, was ihn dazu brachte, förmlich das Ende der Waffenruhe zu erklären.
- Sieben ukrainische Soldaten werden vermisst und drei weitere sind im Kampf an einem Kontrollpunkt in Luhansk Mitte Oktober gefallen.
- Drei Zivilisten wurden in Donezk am 29. September nach Artilleriebeschuss getötet und fünf verletzt.
- “Mehr als zehn” Zivilisten wurden nach Angaben des ukrainischen Militärs durch Artilleriefeuer am 18. September getötet.
Wir konnten damit weitermachen, wirklich.
Dieser “Waffenstillstand” wurde nicht eingehalten – weder formell noch informell – und das seit Monaten. Anfang Oktober war die Situation im Südosten der Ukraine so schlimm, dass das ukrainische Militär sie zu einer “Zeit der [Nacht]Ruhe” herabgestuft hat, in der die Kämpfe erst nach 18.00 Uhr eingestellt wurden.
Die Schlussfolgerung, mit der neuesten Ankündigung der NATO über das “Eindringen” russischer Truppen in der Ukraine werde das Ende der Waffenruhe signalisiert, zeigt ein völliges Unverständnis dieses Konflikts. Die Ukraine hat die vergangenen Monate damit verbracht, die Knoten zu entwirren: Die Regierung verliert Unterstützung (und Finanzmittel), [einige] Oligarchen halten weiterhin ihre Enklaven im Osten – wie so viele feudale Fürsten – und das ukrainische Militär, auch wenn es in dieser WocheTruppen in den Osten “verlegt” hat, ist zunehmend seltener in der Lage, Rebellenangriffe abzuwenden – was ja der eigentlich Grund war, warum man sich überhaupt auf die Waffenruhe eingelassen hatte.
Warum hat der Westen auf Gespräche über eine Waffenruhe bestanden, die sich sofort nach der Unterzeichnung in Rauch aufgelöst hat? Weil der Westen müde und gelangweilt von der Ukraine ist und von den langen, unkonventionellen Kriegen in kleinen, fernen Ländern. Europa ist nicht besonders begierig, ein mittelloses, korruptes Land, das sich in ein Kriegsgebiet verwandelt hat, in seine Arme zu nehmen. Das Weiße Haus ist von ISIS und Ebola und der GOP [Grand Old Party = Republikaner] abgelenkt. Und sowohl Washington als auch Brüssel sind aus dem Rennen. Sanktionen gegen Russland verschärfen? Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat das gerade ausgeschlossen. Den Ukrainern Waffen liefern? Putin wird genau das tun, was der Westen tut – plus eins. Während die ukrainische Armee mobil macht für den wahrscheinlich sehr viel offeneren Konflikt mit Russland, ist der Westen wieder einmal gelähmt durch seinen verständliche Mangel an Verlangen, sich mehr zu engagieren.
Am Ende kommt es auf die einfache Arithmetik des Willens an: Putins Wille, die Ukraine zu zerstückeln, ist größer als der Wille des Westens, sich anzustrengen, um eine zerbrochene Vase zusammengeklebt zu halten. Obama seiterseits hat etwas in der Richtung schon im Privaten gesagt. Und Putin hat deutlich gemacht, was er will. Im vergangenen Monat sprach Putin mit ausländischen Russland-Beobachtern auf der Jahrestagung des Waldai-Clubs und wurde befragt, ob er die Souveränität der Ukraine in Frage stelle. Das tue er nicht, sagte er, aber in Frage stünden ihre derzeitigen Grenzen. Der Osten sei historisch russisches Gebiet, das die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik in den 1920er Jahren aufgegabelt habe, “um den Anteil des Proletariats zu erhöhen”; der Westen sei von Polen nach dem Zweiten Weltkrieg abgetrennt worden. Die Ukraine, schloss er, sei “eine komplexe Erfindung der Regierung.” Putin möchte die sowjetische Schöpfung mit ein wenig eigenem restaurativem Realismus verdünnen, und am Ende wird er den Donbas einnehmen, wie wir im März schon vorausgesagt haben.
Autorinnen: Julia Ioffe und Linda Kinstler
Quelle: newrepublic.com
Übersetzung: Euromaidan Press auf Deutsch
Foto: DIMITAR DILKOFF / AFP / Getty Images