Garri Kasparow im Interview mit Radio Liberty (RFE/RL)
Garri Kasparow, Schachweltmeister und Person des öffentlichen Lebens, trifft bei seiner Reise nach Norwegen zum Osloer Friedensforum auf den Ex-Yukos-Chef Michail Chodorkowski, dessen Aussagen zur Krim ebenso wie die Aussagen des russischen Oppositionsführers Alexej Nawalny er zuvor in seinem Blog folgendermaßen kommentierte: „Chodorkowski und Nawalny ignorieren die oberste Aufgabe der Opposition.“ Hier einige Auszüge aus dem Text:
„Die viel beachteten Interviews von Alexej Nawalny und Michail Chodorkowski, in denen beide mit unterschiedlich starkem Überzeugungsgrad die These vertraten, Russland sollte Krim nicht an die Ukraine zurückgeben, lösten heftige Streitigkeiten aus.“
„Daraus folgt logischerweise, dass es eine wesentliche Alternative zu Putin in Russland nicht gibt. Zwei leuchtende oppositionelle Führer, in den Augen vieler die Verkörperung eines ‘europäischen Russlands’, gaben zu verstehen, dass ihre Abweichungen von Putin in der ‘Krim-Frage’ lediglich stilistischer Natur sind.“
„Die Aussagen Nawalnys und Chodorkowskis lassen vermuten, dass sie bereit sind, ihre politische Position nach der Meinung einer Masse zu richten, die von einer pseudopatriotischen Hysterie unter der wachsamen Obhut der Putinschen Agitationspropaganda ergriffen ist.“
„Als einzige Möglichkeit zur Bekämpfung dieser Macht bleibt die Bewahrung der Sinngehalte. Anstatt mit den von der Propaganda berauschten Massen zu liebäugeln, muss die Opposition, so wie es seinerzeit der für seine ‘politische Naivität’ vielbelächelte Andrei Dmitrijewitsch Sacharow getan hat, mit Überzeugung einfache Wahrheiten kundtun.“
Im Interview mit Radio Swoboda setzt Kasparow seine Überlegungen darüber fort, was in seinen Augen die oberste Aufgabe der Opposition ist:
– Unter den Bedingungen einer personifizierten Diktatur, die ganz offen eine faschistische Ideologie vertritt, ist das eine aufklärerische Aufgabe, wir müssen die Sinnsysteme wiederaufbauen. Leider sind wir gezwungen zu wiederholen: Weiß ist weiß und schwarz ist schwarz. Denn im Moment lebt das Land unter dem Einfluss einer totalen Lüge, welche rund um die Uhr von der staatlichen Propagandamaschine ausgestrahlt wird. Sich unter diesen Umständen allen Ernstes auf die Ergebnisse von Meinungsumfragen zu stützen, oder mehr noch, ein langfristiges Konzept erarbeiten zu wollen, ist meiner Ansicht nach absolut unproduktiv, und wirft darüber hinaus ein falsches Licht auf die russische Opposition. Es gibt Fragen, in deren Beantwortung diejenigen, die sich für die Opposition halten, m.E. deutlich von der herrschenden Macht abgrenzen müssen.
Existiert denn in Russland eine Opposition, die den Leitsatz von der bedingungslosen Rückgabe der Krim unterstützt, ein wenigstens ansatzweise messbarer Bevölkerungsanteil, der bereit ist, das mitzutragen?
In diesem Fall antwortet jeder für sich. Ich habe nicht zufällig das Beispiel von Andrei Dmitrijewitsch Sacharow gebracht. Er stand deutlich einsamer da, als er Dinge sagte, die heute so offensichtlich erscheinen, aber damals einen ungeheuren Mut abverlangten. Die Annexion der Krim ist ein Kriegsverbrechen, eine Verletzung aller internationalen Verpflichtungen, die Russland seit 1991 auf sich genommen hat. Wenn wir über ein grundlegend anderes Regierungskonzept in Russland, über eine Demontage der Putin-Diktatur und den Aufbau eines demokratischen Staates sprechen, dann müssen wir dem internationalen Recht dieselbe Achtung zollen wie dem russischen. Denn die Opposition tritt recht einstimmig gegen einen Machtmissbrauch innerhalb des Landes auf. Aber die Annexion der Krim und die Unterstützung, zunächst von separatistischen Bewegungen im Donbas, und dann auch der offene Einmarsch russischer Truppen, ist die Fortsetzung derselben Politik, die ein einziges letztes Ziel verfolgt, und zwar die Aufrechterhaltung des diktatorischen Putin-Regimes. Außer Acht zu lassen, dass diese Dinge miteinander aufs Engste verbunden sind, ist m.E. falsch.
Sie sagen in Ihrem Beitrag, dass sowohl Chodorkowski wie auch Nawalny in der einen oder anderen Form den Sturz des Putin-Regimes erwarten. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie dies vor sich gehen könnte?
Die Stärke und zugleich die Schwäche von Diktaturen wie der Putinschen besteht darin, dass das niemand weiß. Wenn Sie und ich das wissen würden, dann wüsste das auch der KGB und die Diktatur selbst, und es würde nicht geschehen. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist die, dass je länger ein Diktator an der Macht ist, der den politischen Raum aushöhlt, desto turbulenter wird die Übergangsperiode. Natürlich, der Diktator könnte eines natürlichen Todes sterben. Ich denke aber, Putin könnte Russland überleben. Deshalb, denke ich, wird es in irgendeiner Form zu inneren Ereignissen kommen, einem Auseinanderdriften, das unausweichlich durch die wirtschaftlichen und politischen Probleme vorangetrieben wird, in denen Russland immer tiefer versinkt. Aber wer und was Putin dabei helfen wird, seine Herrschaftsposition aufzugeben – das kann heute niemand voraussagen. Das Offensichtliche ist, dass die Situation im Falle des Ausscheiden Putins unausweichlich unvorhersehbar sein wird, und zwar deshalb, weil ein Diktator eine Art Balancesystem seiner eigenen Macht erschafft, um zwischen den verschiedenen Gruppierungen zu manövrieren, welche ihrerseits die Stützen des Regimes bilden – faktisch ist das sein Rückgrat. Wenn dieses Rückgrat verschwindet, führt das naturgemäß zum Kollaps der gesamten Konstruktion. Es ist völlig offensichtlich, dass der Weg Russlands in die europäische Gemeinschaft, seine Integration in Europa ohne eine sofortige und grundsätzliche Lösung des Krim-Problems unmöglich ist. Denn es ist keine Frage von Verhandlungen, sondern davon, dass ein Verbrechen verübt wurde, für das sich erstens jemand zu verantworten haben wird, und zweitens wird Russland einen zivilisierten Weg finden müssen, mit minimalen Verlusten für das Land aus dieser Situation herauszufinden.
Sie schlagen vor, kompromisslos einer Politik zu folgen, die auf Werten gründet, Chodorkowski und Nawalny hingegen erachten es eventuell als notwendig, signifikante nationalistische Stimmungen innerhalb der russischen Gesellschaft einzubeziehen. Möglicherweise manövrieren sie, verfolgen eine langfristige Strategie.
Ich betreibe Politik nicht in derselben Form wie Chodorkowski und Nawalny. Sie haben ohne Zweifel politische Ambitionen, die ich nicht habe. Ich denke, man kann nicht über die Zukunft des Landes reden, über eine zivilisierte demokratische Gesellschaft, die wir aufzubauen versuchen, und uns dabei darauf stützen, was sie als nationalistische Überzeugungen bezeichnen. In Wirklichkeit ist das keine Frage davon, wie ein bestimmter Teil der russischen Bevölkerung sich zu ethnischen Problemen innerhalb des Landes verhält. Es gab eine Aggression, und deshalb wäre es wie ich finde falsch, ernsthaft anzunehmen, man werde mit solch unbrauchbaren Mitteln ein neues Russland aufbauen. Russland wird seine eigenen internationalen Pflichten erfüllen müssen. Seit 1991 hat Russland nach und nach Abkommen unterzeichnet, die wiederum parlamentarisch ratifiziert wurden, und in diesen Abkommen wurden die Grenzen sowohl Russlands sowie der Ukraine genau festgelegt.
Überschätzen Sie nicht die Prinzipientreue der westlichen Haltung dazu? Die „weiche“ Position des Westens bei der Krim-Annexion durch Russland ist mehr als einmal diskutiert worden. Möglicherweise nehmen Nawalny, Chodorkowski und Andere an, dass ein wie auch immer geartetes Übergangsregime im Falle eines Sturzes des Putin-Regimes die Krim als „Spielball“ benutzen könnte.
Ein Regime, das mit der Krim spielt, wird kein Übergangsregime sein. Mit einem Vertragsbruch, der auf kriminelle Weise begangen wurde, spielt man nicht. Vielleicht wäre jemand im Westen bereit, die Annexion der Krim zu akzeptieren. Aber ich denke nicht, dass wir in naher Zukunft westliche Regierungen sehen werden, die bereit wären, dies einzugestehen. Zweifelsohne gibt es nicht wenige westliche Politiker, die, auf Grund ihrer persönlichen Interessen und politischer Feigheit zum Beispiel, dazu bereit wären. Das haben wir alles schon einmal 1938 erlebt. Solch eine Politik wird nicht zum Sturz des Putin-Regimes führen, sondern zu weiterer Aggression. Wenn man heute so tut, als könnte man irgendeinen Kompromiss außerhalb des geltenden Rechts finden, dann belohnt man damit nur den Aggressor. Wenn es im Falle der Krim den gebührenden Widerstand gegeben hätte, hätten wir jetzt nicht den Donbas. Entsprechend würden wir schneller deutlichere Entwicklungen in Russland beobachten können, wäre der Westen zu tatsächlichen Sanktionen bereit gewesen. Und jetzt ist es m.E. recht offensichtlich, dass sich Putin umschaut und die nächste Angriffsrichtung auswählt. Solch eine Beschwichtigungspolitik oder die Suche nach einem Kompromiss außerhalb der rechtlichen Rahmen wird seinen Appetit unweigerlich weiter anfachen. Seine Macht basiert in vielerlei Hinsicht auf dem Bildnis des Territoriensammlers. Wir können also angesichts der reichen Auswahl an Angriffspunkten für den nächsten Schlag – das Baltikum, die Ukraine, Aserbaidschan, Georgien und Kasachstan – davon ausgehen, dass Putin ein neues Ziel finden wird, denn dies wird, genauer, ist bereits zum neuen Rückgrat der Putinschen Propaganda geworden.
Hier in Oslo könnten Sie auf Michail Chodorkowski treffen. Würden Sie versuchen, ihn von Ihrem Standpunkt zu überzeugen?
Wir werden mit Sicherheit aufeinander treffen. Ich denke, es wird ein gutes konstruktives Gespräch stattfinden. Aber ich weiß auch genau, dass es zwecklos ist, Michail Borisowitsch überzeugen zu wollen. Er ist jemand mit fest ausgebildeten Ansichten. In diesem Fall ist das seine politische Haltung, seine Pläne, die er sicherlich gut durchdacht hat. Mir erscheint diese Haltung nicht richtig und äußerst gefährlich für die Zukunft unseres Landes.
Könnten Sie sich in irgendeiner Form eine Zusammenarbeit mit Chodorkowski vorstellen?
Ich denke, dass manche Dinge in Wirklichkeit um einer Story willen aufgebläht werden. Es ist ja offensichtlich, dass eine Demontage der Putin-Diktatur ein gemeinsames Ziel sowohl für Chodorkowski wie auch für Nawalny, genauso wie für mich und viele andere Menschen ist, die in der Krim-Frage verschiedene Standpunkte vertreten. Aber das bedeutet nicht, dass wir unterschiedlicher Meinung in Bezug auf eine perspektivische Demontage eines Regimes sind, das die Zukunft unseres Landes bedroht, in diesem Punkt sind wir uns einig. Und die Tatsache, dass es zum jetzigen Zeitpunkt verschiedene Positionen zur Krim-Frage gibt – so sollte es im Prinzip ja auch sein. Diese Frage wird nicht gelöst werden, solange Putin an der Macht ist, das ist völlig klar, und für die Zukunft existieren verschiedene Positionen, die bereits jetzt von verschiedenen Personen vorgetragen wurden. Ich denke, es ist gut, dass diese Diskussion gerade stattfindet.
Was bleibt den Menschen, die auf die eine oder andere Weise die Opposition in Russland vertreten, zum jetzigen Zeitpunkt an praktischen Möglichkeiten, abgesehen davon, sich nach außen hin zu positionieren?
Und wieder fangen wir an, mit Sinngehalten zu spielen. Denn das Wort „Opposition“ assoziieren viele mit einem bestimmten Koordinatensystem wenigstens ansatzweise demokratischer Natur. Das sind in der einen oder anderen Form Parteien, Debatten, Wahlen. In Russland herrscht eine Macht, die sich bei Wahlen nicht ändert. Das ist die personifizierte Diktatur unter Putin, und entsprechend ist bereits die gesamte Machthierarchie in Zement gegossen. Viele tun weiterhin so, als könnte sich bei den Wahlen in Russland irgendetwas ändern, vielleicht wird ein Kandidat auf kommunaler Ebene ausgewechselt, aber dass man die Bürgermeister nicht mehr austauschen wird, so viel steht fest. Deshalb ist eine politische Tätigkeit in der Form, wie es sie vor 6-7 Jahren gab, heute nicht mehr möglich, das Regime ist in der Lage, jede potentiell gefährliche Aktion mit gewaltsamen Mitteln zu zerschlagen. Es liegt auf der Hand, dass jede Tätigkeit in Russland genau so lange bestehen kann, wie das Regime bereit ist, sie zu dulden, weil es diese Tätigkeit entweder als in irgendeiner Weise den eigenen Zielen förderlich erachtet, oder wenigstens als harmlos und teurer in der Beseitigung als in der Tolerierung. Deshalb gilt es einfach, seine eigene Zukunftsvision zu entwickeln. Der Sturz des Regimes wird aus der Aufklärung der Menschen resultieren, die m.E. nicht ewig in dieser völlig paranoiden Hysterie verbleiben werden, die mit dem „Die-Krim-gehört-uns“ einhergeht. Die wirtschaftlichen Sanktionen fangen doch langsam an weh zu tun, um den Rubel sieht es nicht besonders gut aus, die Ölpreise fallen. Wir müssen uns darauf einstellen, dass sich die Situation ändert, und dann muss die Opposition etwas anbieten können. Aber ich glaube nicht, dass es im Moment unmittelbar in Russland irgendwelche konkreten Tätigkeiten gibt, die etwas bewirken könnten. Wir können beobachten, wie hart das Regime gegen auch nur die Andeutung einer politischen Aktivität vorgeht, die über die Rahmen des Erlaubten hinausgeht.
Das Interview führte Walentin Baryschnikow
Quelle: kasparov.ru
Übersetzung aus dem Russischen: Jennie Seitz
Redaktion: Euromaidan Press auf Deutsch