Die Archivakten von Viktor Pschonka: Der Maidan mit den Augen des Generalstaatsanwalts
Mustafa Nayyem, Ukrainische Pravda, Freitag den 28. März 2014, 13:56
Quelle: http://www.pravda.com.ua/articles/2014/03/28/7020627/view_print/
Übersetzung: Olha Poberezhna
Die “Ukrainische Pravda” beginnt eine Reihe von Publikationen aus dem persönlichen Archiv des ehemaligen Generalstaatsanwalts Viktor Pschonka, das in seiner Villa in der Nähe von Kyiw gefunden wurde. Diese Dokumente waren der Redaktion vor etwas mehr als einem Monat in den ersten Tagen nach der Flucht von Viktor Janukowytsch zur Verfügung gestellt worden.
Am 24. Februar hat ein unbekannter Mann einen Journalisten des Verlages angerufen und angeboten, das persönliche Archiv des ehemaligen Generalstaatsanwalts Viktor Pschonka einszusehen.
Wir sagten zu, und wenig später kam ein Auto, welchem wir folgen sollten.
Wir sind mit einem Kameramann und einem Streamer von hromadske.tv (Red.: ein unabhängiger TV-Sender) aufgebrochen. Wie es sich herausstellte, fuhren wir in die Villa des ehemaligen Generalstaatsanwalts im Dorf Horenytschi. Das war dieselbe Villa, aus welcher später Fotos im Internet veröffentlicht wurden, die der Welt den beispiellosen Luxus und sehr sonderbaren Geschmack von Herrn Pschonka enthüllten.
Das Haus wurde von bewaffneten Männern bewacht, die sich als Kämpfer des „Rechten Sektors“ vorstellten. Vor Ort arbeitete bereits ein Team von “1+1” (Red.: ein TV-Sender), dessen Journalisten zusammen mit uns das Archiv des ehemaligen Generalstaatsanwalts begutachteten.
Alle Unterlagen wurden in einem kleinen Nebengebäude auf dem Anwesen, wo früher die Sauna war, zusammengetragen. Wie die Männer in Balaklava sagten, wurden einige der Kartons mit Papieren im ganzen Haus aufgesammelt, andere waren teilweise bereits hier – in der Sauna.
In nur zwei Zimmern waren sechs bis zehn große Kartons und ein Dutzend dicker Ordner zu finden. Die meisten von ihnen enthielten Berichte über Medienbeobachtung, die der Generalstaatsanwalt anscheinend täglich erhielt, und analytische Berichte über die Kriminalfälle.
Unter anderem gab es dort auch Unterlagen zu “kleinen” Resonanzfällen, wie zum Beispiel ein detailliertes Schema der Überfälle auf das Einkaufszentrum „Globus“ und die Ermittlungen zur VAB-Bank.
Darunter fanden wir auch Ermittlungsakten gegen Arsenij Jazenjuk und seine Partei “Front Zmin” (Red.: die Front der Veränderungen), sowie gegen andere Abgeordnete (z.B. Anatolij Gryzenko und Abgeordnete der Partei “Swoboda”).
Das Archiv enthält Hinweise, denen zufolge die Generalstaatsanwaltschaft mit dem Abgeordneten Sergij Mischtschenko, dem Autor des Gesetzentwurfs über die ärztliche Behandlung von Julia Tymoschenko, und dem ehemaligen Offizier des Sicherheitsdienstes Mykola Melnytschenko, der mehrmals als Zeuge im Fall von Julia Tymoschenko auftrat, zusammengearbeitet hat.
Den Großteil der verbliebenen Dokumente bildeten Unterlagen über Strafverfahren und analytische Notizen, die sich grob in zwei Themenbereiche unterteilen ließen – die Ereignisse auf dem Maidan und der Fall von Julia Tymoschenko.
Die Unterlagen zu Julia Tymoschenko waren praktisch überall im Zimmer verstreut und zogen sich wie ein roter Faden durch alle Untersuchungsordner. Das Strafverfahren selbst war in zwei große Stapel mit von der Hand geschriebenen Überschriften “Tymoschenko” und “Schtscherban” aufgeteilt.
(Red.: Schtscherban und seine Frau sowie zwei Techniker wurden am 3. November 1996 amFlughafen Donezkvon Personen ermordet, die als Polizisten verkleidet waren. Zwar wurden 2003 acht Tatbeteiligte zu Gefängnisstrafen verurteilt, die Hintergründe des Mordes wurden aber nie vollständig aufgeklärt.Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft bezeichnete im Januar 2013 den ehemaligen MinisterpräsidentenPawlo Lasarenkosowie die ehemalige Ministerpräsidentin und spätere OppositionsführerinJulia Tymoschenkoals Auftraggeber der Tat.Tymoschenko und ihr Verteidiger wiesen die Vorwürfe als absurd und konstruiert zurück, sie beschuldigten ihrerseits den MilliardärRinat Achmetow sowie Präsident Wiktor Janukowytsch,an dem Mord an Schtscherban beteiligt gewesen zu sein.)
Es ist uns leider nicht gelungen, das gesamte Archiv zu dokumentieren. Uns wurden nur ein paar Stunden für die Begutachtung gegeben. Danach legten die Unbekannten die Papiere zurück in die Archivboxen und trugen sie aus dem Haus weg. Ihren Behauptungen zufolge, werden alle Unterlagen beim „Rechten Sektor“ aufbewahrt.
Alles in einem haben wir etwa sechs Stunden mit der Digitalisierung der auf den ersten Blick wichtigsten Unterlagen verbracht. Im Endeffekt konnten wir etwa 700 Blätter fotografieren, die wir erst vor kurzem sortiert und bearbeitet haben. Alle diese Dokumente werden in Kürze auf der Seite der “Ukrainischen Pravda” veröffentlicht.
Wir entschieden uns, mit den Ereignissen auf dem Maidan anzufangen.
Sie hatten Angst, dass der Maidan bis August 2014 durchhalten wird
Offenbar wurde das Dokument Anfang Dezember letzten Jahres nach dem ersten Berkut-Angriff auf die Studenten auf dem Maidan und den ersten Strafverfahren auf Grund dieser Tatsache vorbereitet. Das Fazit des Dokuments ist, dass fast alle Behörden Schwächen und Desorganisation in ihrer Reaktion auf die Ereignisse auf dem Maidan zeigten, und dass die einzige Stütze von Viktor Janukowytsch die Generalstaatsanwaltschaft war.
Das Ministerium für Bildung und Wissenschaft, so der Autor der Notiz, segnete eigentlich die Studenten für die Einnahme der staatlichen Institutionen ab.
Das Gesundheitsministerium, anstatt der Regierung zu helfen, erklärte den Studenten, wie man sich während der Kälteperiode verhält. Obwohl der Text bestätigt, dass das Gesundheitsministerium, wenn auch verspätet, gut mit der “Leichensituation” umging, ruderte es später aber wieder zurück und erklärte, dass die epidemiologische Situation im Land in Ordnung sei. (Red.: es geht offenbar um die Leiche eines Mannes, der Tuberkulose hatte. Der Leichnam wurde unweit vom Maidan gefunden.)
Das Außenministerium habe erst nach einem Monat seine Empörung über die Einmischung von ausländischen Staatsangehörigen in die inneren Angelegenheiten der Ukraine geäußert.
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Doch die größte Kritik richtete sich gegen das Innenministerium, das seine “Berkut”-Einheiten nicht schützen konnte. Stark kritisiert wurde auch persönlich der Innenminister Vitali Sachartschenko, der sich zurückhielt und keine Initiative zeigte.
Der am meisten sagende Textabschnitt ist die Kritik an dem Sicherheitsdienst der Ukraine. Analysten der Generalstaatsanwalt waren empört, dass der Sicherheitsdienst kein Team-Player sei und nicht nur versäumte, den eigenen Standpunkt der Öffentlichkeit zu vermitteln, sondern verlor auch noch eines seiner Sonderfahrzeuge. Offenbar ist hier die Rede von dem Vorfall, als während der Proteste nicht weit vom Europäischen Platz ein Auto des Sicherheitsdienstes mit der Abhörtechnik gekapert wurde.
Am Textrand wird mitsamt der Kritik am Sicherheitsdienst wiederholt auf die Notwendigkeit hingewiesen, den Informationsraum zu kontrollieren, darunter “Kontrolle des Internets” und “Beschaffung von Informationen”. Explizit wird auf die Notwendigkeit, soziale Netzwerke zu kontrollieren, aufmerksam gemacht.
“Soziale Netzwerke! Der Maidan wird durch soziale Netzwerke organisiert” – steht in den Randnotizen. .
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Besondere Aufmerksamkeit verdient die Kritik am Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat. Anscheinend leitete Andrij Kljujew zum Zeitpunkt des Entstehens dieses Schreibens noch den Sicherheitsrat. Und wenn man den Autoren des Berichts glaubt, so verriet der Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat Viktor Janukowytsch, in dem er den Präsidenten nicht unterstützte.
Darüber hinaus weckten die Aussagen des Leiters des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates und auch seines Stellvertreters Volodymyr Sivkovytsch über ihre Nichtbeteiligung an den Ereignissen des 29. und 30. November Zweifel der Bürger und bestätigten sie in ihrer Meinung, dass der Befehl zum gewaltsamen Angriff auf die Studenten gerade von ihnen kam.
Als nächstes kommen die Lobpreisungen der Generalstaatsanwaltschaft und Viktor Pschonka persönlich, insbesondere für seine starke Leistung, als er die Werchowna Rada zwang, sich selbst und die Regierung zu respektieren. (Red.: es geht um die Rede von W. Pschonka in der Werchowna Rada)
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Auf der letzten Seite des Berichts sind die Risiken des Fortbestehens des Maidan aufgelistet.
Allerdings müssen wir den Analysten der Generalstaatsanwaltschaft Respekt zollen. Schon Anfang Dezember, als sich der Maidan noch nicht ausgedehnt hatte, rechneten Viktor Pschonka und sein Gefolge zu Recht damit, dass sich das Zentrum der Stadt in ein Zeltlager verwandeln könne.
Jetzt mag es lustig klingen, aber die größte Angst der Generalstaatsanwaltschaft war, dass der Maidan eine Plattform für die Jubiläumsfeier von Taras Schewtschenko wird. (Red.: Taras Schewtschenko wird in der Ukraine als die bedeutendste historische und literarische Gestalt verehrt. 2014 wird sein 200-jähriges Jubiläum gefeiert.)
Ein weiterer Aspekt, der von Interesse sein kann, ist der starke Glaube der Generalstaatsanwaltschaft, dass Viktor Janukowytsch noch beabsichtigt, den europäischen Kurs einzuschlagen. Eine Notiz erklärt, dass der Maidan bis zum März, Juni oder August 2014 bestehen könnte – alles Termine der möglichen Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU.
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Als eine mögliche Reaktion auf die Ereignisse wird das gegenseitige “Ausschalten” von Kljujew durch Ljowotschkin und umgekehrt angeboten. Es wird empfohlen, eine massive Informationskampagne in den Medien zu starten, um den Maidan zu diskreditieren. Es wird sogar eine Richtung angegeben – die nicht-rechtmäßige Existenz des Maidan, schlechte hygienische Bedingungen, Obdachlose, Diebe, marginale Personen.
Zur gleichen Zeit wird der Grundstein für eine Informationskampagne gelegt, die jetzt die russischen Medien führen: die Finanzierung von außen der speziellen Trainingslager für militante Nationalisten.
Über die Suche nach den Schuldigen an den Provokationen auf dem Maidan
Der zweite Zettel aus etwa der gleichen Zeit ist noch direkter.
Im ersten Absatz des Dokuments vermerkt der Autor, dass das Strafverfahren gegen Popow, Sivkowytsch und Korjakin (anscheinend geht es hier um die gleichen Ereignisse am 29.-30. November 2013) eine sehr positive Auswirkung auf das Image des Präsidenten hatten. Die Presse erwähnte Viktor Janukowytsch im Zusammenhang mit dem Angriff auf die Studenten auf dem Maidan nicht mehr, und der Massenzorn wurde auf die genannten Beamten gerichtet.
Es wird aber sofort darauf hingewiesen, dass die Umgebung des Präsidenten nicht bereit sei, die Verantwortung für die negativen Ereignisse, an denen sie selbst schuld war, zu übernehmen. Wer genau von den Autoren gemeint ist – der damalige Verwaltungschef Sergij Ljowotschkin oder der Chef des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates Andrij Kljujew – ist nicht klar.
Es wird darauf hingewiesen, dass die öffentliche Meinung noch nicht geformt sei, und eine Ablenkung der Aufmerksamkeit von Kljujew auf Ljowotschkin und auch auf Poroschenko sinnvoll wäre. Warum für die Rolle der Täter gerade diese Personen ausgewählt wurden, bleibt ungeklärt.
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Die Notiz beschreibt detailliert das Informationsschema der Verschiebung dieser Akzente. Die Autoren schlagen insbesondere vor, die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Tatsache zu lenken, dass weder der stellvertretende Leiter des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates Volodymyr Sivkovytsch, noch der Kiewer Polizeichef Valerij Korjakin sich mit der Installation des Neujahrsbaumes beschäftigten. Die Verantwortung liege einzig und allein bei dem Kyiwer Oberbürgermeister Oleksandr Popow.
Es sollten Parallelen zu der Schwester des Verwaltungschefs Julia Ljowotschkina gezogen werden, die das Kyiwer Entsorgungs-, Verwertungs- und Recyclingunternehmen „Kyiwspeztrans“ kontrolliert und Einfluss auf das kommunale Unternehmen „Spezkommuntrans“ hat. („Kyiwspeztrans“ wird von dem Ex-Ehegatten von Julia Ljowotschkina, Arsen Nowikow geleitet.)
Weiterhin wird vorgeschlagen, den Informationsraum mit Berichten über die Korruptionssysteme, die Sergij Ljovotschkin und Oleksandr Popow verbinden, zu überfluten.
Außerdem schlägt der Autor vor, den öffentlichen Diskurs darüber anzufangen, was die Gruppe F. – L. – P. (offensichtlich Firtasch – Ljowotschkin – Poroschenko) verbindet.
Als Option wird angeboten, daran zu erinnern, dass jede Anwendung der Gewalt von Europa verurteilt werden wird und offensichtlich Viktor Janukowytsch in die Arme Russlands stoßen wird, was aufgrund der destabilisierten Situation im Lande zum Staatsstreich führen könnte.
Um diese Version glaubwürdig zu machen, sollte man Sergij Ljowotschkin zu einer Vernehmung vorladen. Dabei wäre nicht das Vernehmungsprotokoll wichtig, sondern die Tatsache, dass er verhört wurde, und das sollte so in den Medien diskutiert werden. Die Polizei wurde beauftragt, eine Liste der Sitzungen, Telefongespräche und der Ortung von S. Ljowotschkin zwischen dem 29.11.2013 und dem 03.12.2013 in voller Chronologie anzufertigen, um Fakten zu finden, die indirekt bestätigten, dass er an den Ereignissen auf dem Maidan beteiligt war.
Die Beteiligung von Petro Poroschenko sollte durch die Zeugenangaben von Dmytrij Kortschynskyj über die Ereignisse in der Bankowa Str. am 1. Dezember 2013 bestätigt werden.
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Heute ist es offensichtlich, dass die Pläne des Generalstaatsanwalts scheiterten.
Viktor Pschonka konnte keine Stütze für Viktor Janukowytsch werden, und seine Pläne zur Diskreditierung des Maidan durch die Medien führten dazu, dass die öffentliche Meinung nicht nur den Verlauf aller Ereignisse der letzten vier Monate bestimmte, sondern auch bis heute die Agenda prägt.
In den späteren Publikationen wird die “Ukrainische Pravda” die Materialien der Strafverfahren betreffend die Ereignisse von 29.-30. November 2013 veröffentlichen, sowie neue Dokumente, die einen detaillierten Plan der Generalstaatsanwaltschaft enthüllen, den Maidan mit allen möglichen Kräften und Mitteln einer ganzen Reihe von Regierungsbehörden zu bekämpfen.
Unter anderem war die Rede von den Festnahmen der Abgeordneten, der Ausweisung internationaler Diplomaten und Tausenden neuen Gerichtsverfahren gegen die Aktivisten des Maidan.
Übersetzung: Olha Poberezhna
Quelle:
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