Halyna Pahutiak
04.02.2014, 22:11
Der Terror traf zuerst die Wirtschaft – die Klein- und Mittelschichtunternehmen wurden regelmäßig vernichtet. Die Unternehmer wurden einfach dazu gezwungen, ihre Geschäfte abzugeben oder zu einem Spottpreis zu verkaufen. Die Unternehmer haben sich zum Protest versammelt und man sagte über sie, es seien ein Krämervolk. Und ihren Protest hat man unterbunden. Danach begann man alles Mögliche mit Steuern zu belegen. Und keiner trat auf die Straße, weil die da oben besser wüssten, wie viele Steuern abzuführen wären.
Dann fing der soziale Terror an. Man hat den Tschornobyl-Opfern und den Veteranen des Afghanistan-Krieges die Begünstigungen abgeschafft. Sie traten zum Protest auf, und man sagte über sie, wer habe sie denn hingeschickt?
Danach war der Informations- und Bildungsterror dran: die sprachlichen, kulturellen und historischen Besonderheiten wurden aufgeräumt. Das gelang auch. Um so mehr, dass am Prozeß die Intellektuellen selbst teilgenommen haben, die sich von den Folkloremotiven abgrenzen wollten, weil sie fest überzeugt waren, gerade das wäre ein besonders großes Hindernis auf dem Weg nach Europa. Alles ist gut geklappt.
Schließlich, als ein Teil der Gesellschaft begriffen hat, dass die Macht, die nicht von ihnen gewählt wurde, einen politischen Terror begann, und als dieser Teil der Gesellschaft auf die Straße zum Protest strömte, kam die Zeit des physischen Terrors: Verprügeln, Morde, Kidnapping. Foltern. Dem polnischen Philosophen Jan Kott gehört ein weiser Ausdruck: „Es spielt keine Rolle, was mit uns gemacht wurde. Wichtig ist, was wir damit gemacht haben, was mit uns gemacht wurde.“ Der Fehler bestand darin, dass die meisten nicht verstehen wollten: wenn man einen schwächeren Terror nicht stoppt, dann wird er stärker.
Das Anne-Frank-Syndrom
Der amerikanische Psychologe jüdischer Herkunft Bruno Bettelheim (1903-1990), der Buchenwald und Dachau überlebt hat, beschreibt in seinem Buch The Informed Heart den Bewusstseinszustand eines Menschen, der alle Stufen des Terrors durchmachen muss, nachdem er entweder gebrochen, oder standhaft bleiben wird. Die Geschichte von Anne Frank ist jedermann bekannt. Ihre vermögende Familie konnte das Land noch zu Beginn der Nazizeit verlassen. Die Eltern konnten mindestens ihre Kinder in einen sicheren Ort im Ausland bringen. Stattdessen haben sie beschlossen zusammen zu bleiben und sich einen Versteck organisieren. Sie haben beschlossen nicht nur zusammen zu bleiben, sondern sogar ihr ehemaliges Leben weiter zu führen. Der Terror ist eine Herausforderung, die einen umwälzenden Wandel des Bewusstseins verlangt. Der Wandel besteht darin, dass man die Ereignisse aufmerksam verfolgt, auf die Last der persönlichen Sachen verzichtet, Beschlüsse selbständig fasst und Verantwortung für eigene Beschlüsse übernimmt. Man beschließt, ob man weiter lebt oder stirbt, den Kampf fortsetzt oder flieht. Der Fehler der Familie Frank bestand darin, dass diese Menschen die Realität nicht adäquat eingeschätzt haben und ihr gewohntes Alltagsleben in einem Versteck führten, ohne jegliche Vorbereitung darauf, was hinter den Hauswänden vor sich ging. Als sie endlich aufgefunden wurden, hatten sie nicht einmal Waffe bei sich, deshalb begaben sie sich gehorsam nach ein paar Jahren Lebenssimulieren dem Tod entgegen. Es gab mehrere solche Menschen. Die Juden klammerten sich an ihrem Geschäft, an ihren Familien, Traditionen, an einen Illusionen. Etwas Ähnliches geschah auch mit den Deutschen, die die anfänglichen Begrenzungen und Unbequemlichkeiten als ein Ordnungsmerkmal empfunden und die Nazis nicht aufgehalten haben und die später selbst unter die Räder der totalitären Maschine geraten sind. Der gesellschaftliche Infantilismus ist der beste Helfer des Terrors. Und der größte Feind des Terrors ist eine autonome Persönlichkeit, die es nicht zulässt, dass man sie manipuliert.
Bruno Bettelheim führt ein erstaunliches Beispiel für eine autonome Persönlichkeit an. Als der Zug der nackten KZ-Häftlinge vor die Gaskammer gebracht wurde, was den Menschen auch bekannt war, erinnerte sich einer der Wächter daran, dass unter den Menschen eine bekannte Tänzerin dabei ist. Er gab ihr den Befehl zu tanzen. Die Frau begann ihren Tanz, näherte sich plötzlich dem Wächter, zog seine Pistole und erschoß ihn. Natürlich wurde sie getötet. Aber einen Moment vor dem Tod gelang es ihr, eine autonome Persönlichkeit zu sein.
Das Spiel im Sandkasten
Die meisten Ukrainer wollen die Folgen und zukünftige Gefahren des Machtterrors und des Widerstands der Aufständischen verdrängen. Am nächsten Tag nach dem Mord an Sergij Nigojan sollte ich eine Lesung haben. Ich habe die Teilnahme an der Lesung abgesagt wegen, wie es mir schien, zu starker emotioneller Belastung. Erst jetzt habe ich begriffen, dass, wenn die Lesung stattgefunden hätte, wäre das für die Zuhörer ein Signal gewesen, was auch immer ich dabei gesprochen hätte, dass es keinen besonderen Grund zur Besorgung gäbe. Etwa in dem Sinne: Leute, wollen wir weiter unser gewohntes Leben leben, wollen wir Bücher kaufen und lesen, und dann wird einmal alles vorbei sein. Ich habe dagegen etwas anderes signalisiert: wir alle müssen wissen, dass etwas sehr Ernstes geschieht.
Das Kind lebt nach der Logik, dass es Eltern hat, die es nicht bestrafen werden, wenn das Kind brav ist. Die Eltern werden alle Probleme lösen, weil ich ja noch nichts selber kann. Die Eltern gewährleisten mir in jedem Fall das Minimum und dafür muss ich ihnen dankbar sein. Wenn ein böser Onkel kommt, schließe ich die Augen mit den Worten: „Es gibt mich nicht“ und er wird mich nicht erblicken. Andere Kinder waren nicht brav, deshalb werden sie bestraft. Andere Kinder haben die Augen nicht geschlossen, deshalb wurden sie gefasst, deshalb hat man sie in den Wald gebracht und dort mit den zugebundenen Armen im Frost gelassen. Andererseits verhalten sich die „Eltern“ mit den „Kindern“ wie mit unterentwickelten, unselbständigen Wesen und allmählich stellt es sich heraus, dass diese Eltern falsche Eltern waren. Für viele „Kinder“ schlug auf dem Euromaidan die Wahrheitsstunde. Sie fingen an, erwachsen zu werden. Der geheime Sinn der rätselhaften Worte Christi „Verabschiede dich vor deinen Eltern“, die für viele Christen so verwirrend sind, ist verständlich geworden. Ein erwachsener Mensch hat keine Eltern, die für ihn Entscheidungen treffen und sorgen. Jetzt muss dieser Mensch selbst für die anderen sorgen, Entscheidungen treffen und für eigene Taten die Antwort stehen.
Für das Kind, das im Sandkasten spielt, ist alles ein Spiel. Es ärgert sich und leidet nur wenn jemand sein Spielzeug wegnimmt. Es glaubt, dass der Vater die Gerechtigkeit erneuert. Wenn ein blindes Vertrauen für das Kind zum Trauma wird, versucht das Kind alles dazu zu tun, damit sich dieses Trauma nicht mehr wiederholt. Dasselbe macht auch der Erwachsene mit dem Unterschied, dass das Kind aus Angst handelt und der Erwachsene aus seinem Verantwortungsgefühl. Deshalb sind ihre Handlungen unterschiedlich. Anhand der eigenen Erfahrung beschreibt Bruno Bettelheim den euphorischen Zustand und die Angstlosigkeit der KZ-Häftlinge, denen man gesagt hat, sie würden alle in Kürze sterben. In den Lagerbaracken haben sie dagegen Einsamkeit und Angst gespürt. Deshalb ist das Verbot der Kundgebungen so wichtig für die Macht, die Terror zum Mittel der Gesellschaftsunterwerfung machen will. Eine Menschenmenge kann man manipulieren, wenn das nicht autonome, unreife Menschen sind. Dann kann eine spontane Rebellion gegen das Unterwerfungsmittel beginnen, und nicht gegen die Unterwerfung selbst. 2004 haben die Menschen für eine führende Persönlichkeit gestanden, jetzt stehen sie für den Systemwechsel. Und das wird wohl das erste Mal in der ukrainischen Geschichte sein, wo der Sohneskomplex nicht im Spiel steht.
„Und was kann ich da tun?“
Eine autonome Persönlichkeit nimmt die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bewusst wahr, sie modelliert das eigene Verhalten selbständig. Sogar zwischen zwei Arten zu sterben wählt sie einen würdigen Tod, geschweige schon was mehrere Varianten betrifft, die uns das Leben zuschiebt. Eine nicht autonome Person lebt den heutigen Tag. Sie sagt: „Es gibt mich nicht“. Oder: „Und was kann ich da tun?“ Diese Person ist immer noch in einer Quasi-Familie gefesselt, in der aus ihr ein Opferlamm gemacht wird, sie denkt aus irgendeinem Grund, dass sie nie unter das Messer kommt. Die anderen Lämmer werden geschlachtet, aber nicht ich. Es bleibt, so hofft es, unbemerkt in ihrer dunklen Ecke sitzen. Diese Hoffnungen sind naiv. Das beweisen die kurzen Prozesse über die zufälligen Passanten, die in den ostukrainischen Städten verprügelt wurden, als die Maidanteilnehmer verfolgt wurden. Wenn man den Inquisitoren vorgeworfen hat, sie vernichten nicht nur die Häretiker, sondern auch unschuldige Menschen, antworteten sie: „Gott wird die Sache schon klären.“ Auch heute kann die Haus- oder Wohnungsnummer verwechselt werden, man braucht nicht unbedingt draußen zu sein. Den Terror muss man stoppen, ehe er an dein Bett kommt.
Es gibt heute mehrere Vorwürfe auf die Adresse der Ostukrainer, die keine organisierten Widerstandsstrukturen bildeten, um die Jagd auf die Menschen zu verhindern. Auch die Menschen aus der Ostukraine werden kritisiert, die im mittelalterlichen Glauben leben, dass in Europa junge Mädchen aus der Ukraine für die Fleischkonserven verarbeitet werden. Die Erklärung wäre die, dass es einerseits einen langsamen, Jahrzehnte dauernden Terror gibt und, andererseits, einen Blitzterror, wie es in Galizien 1941 war, als die sowjetischen Sicherheitsdienste Hunderte Tausende Menschen auf brutalste Weise ermordet hatten. Die Westukrainer haben das nicht vergessen, bei ihnen hat der Terror nicht die Verdrängungsreaktion hervorgerufen, weil die Zeugen jener Ereignisse am Leben blieben, weil die Opfer exhumiert wurden. Die Galizier werden die Wiederholung solcher grausamen Ereignisse kaum zulassen. In Salina, wo dreieinhalb Tausend Menschen getötet wurden, hat man über dem Kirchenaltar einen lebendigen Mann gekreuzigt, der dem Tod der Menschen zuschauen musste. Den Automaidanführer Dmitrij Bulatow hat man auch gekreuzigt. Wir wissen, dass in Kyiv nackte Menschen mit Wasser bei Minustemperaturen begossen wurden, wir wissen die Geschichte vom sowjetischen General Karbyschev, der von Nazis mit Wasser begossen wurde und erfror. Solche Geschichten bestätigen die Sakralisierung der Bestrafung. Darüber hat seinerzeit Stanislaw Lem im Essay „Provokation“ geschrieben. Er schrieb über eine gewisse „Veredelung der Grausamkeit“. Der Terror muss seine Opfer rechtfertigen. Bruno Bettelheim fand noch eine „Rechtfertigung“ des Terrors: die Vernichtungsorgane halten die Vernichtung der Menschen für eine Arbeit, die man gewissenhaft und gut erfüllen muss. In den KZs haben die Ärzte professionell einwandfrei bei den Entbindungen gehandelt, aber schon eine halbe Stunde später schickten sie die Mutter mit dem Neugeborenen ohne geringste Gewissensbisse in die Gaskammer. Deshalb ist es für uns so wichtig zu verstehen, dass man keine Verhandlungen über die Barmherzigkeit mit den Sadisten und Mördern führt. Sie sollen neutralisiert und abgesperrt werden. Wäre in der Ukraine in entsprechender Zeit das kommunistische Regime ähnlich wie das Naziregime verurteilt und verboten, hätten wir den heutigen Terror nicht, und der Westen der Ukraine würde mit dem Osten gemeinsam handeln.
Zwei Wochen lang beobachte ich das Blockieren der Militäreinheitgebäude in Lviv. Jeden Tag zwinge ich mich aus der warmen Wohnung heraus und stehe 6-7 Stunden bei Frosttemperaturen, damit unsere Jungs nicht zu Verbrechern gemacht werden. Nichts anderes ist jetzt wichtig, vieles, was bisher von Bedeutung war, liegt nun ungemacht, weil heute das alles nichts wert ist. In den Kasernen habe ich keine Verwandten, keine Bekannten, genauso wie die meisten Menschen, die mit mir vor dem Tor der Militäreinheit stehen. Mit mir stehen da junge Frauen und Männer, und Angst haben wir nur wenn wir nach Hause zurückkommen. Wir haben unterschiedliche Ausbildung, unterschiedliche Probleme und Lebensansichten, aber keiner von und sagt: „Und was kann ich da tun?“ Das vereinigt uns. Und keiner von uns schließt die Augen. Das Erwachsenwerden ist ein schmerzlicher Prozess, aber ohne ihn durchgemacht zu haben, werden wir keinem zu Hilfe kommen können. Und dann wird kein wirtschaftlicher oder politischer Terror zur körperlichen Gewalt.
… Auch heute noch scheint das Ganze nur ein Albtraum zu sein. Einmal betrat ich das Hauptzelt der Protestierenden. Unter den Füßen lag ein Teppich, ein Metallofen heizte den Raum. Auf einer gezimmerten Bank saßen strenge Männer und schauten sich einen Dokufilm über Slobodan Miloševič an. Einen Film über ein zerrisenes Land, das noch vor kurzem groß und heil war. Auf einmal ergriff mich das Gefühl, dass ich hier in dieser Realität lebe, und dass alles, was außerhalb des Zeltes passiert, lediglich Realitätsimitation sei.
Übersetzung – Chrystyna Nazarkewytsch
Halyna Pahutiak (1958), Ukranische Romanistin. 2010 mit dem Nationalen Schewtschenkopreis für Literatur ausgezeichnet.