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Surkow ist mehr als nur ein politischer Akteur. Er ist ein Ästhet, der Essays über moderne Kunst verfasst, ein Liebhaber des Gangsta-Rap, der ein Foto von Tupac auf seinem Schreibtisch aufgestellt hat, der unmittelbar in der Nähe des Präsidenten steht. Und er ist auch der angebliche Autor des Romans “Nahe Null” aus dem Jahr 2008, der seine eigenen Erfahrungen beschreibt. "Angeblich", weil der Roman unter dem Pseudonym Nathan Dubowizkij veröffentlicht wurde; Surkows Frau heißt Natalja Dubowizkaja. Offiziell ist Surkow Autor des Vorworts, in dem er bestreitet, dass er der Autor des Romans ist, widerspricht sich dann jedoch selbst: "Der Autor dieses Romans ist ein wenig origineller, von Hamlet besessener Schmierfink"; "dies ist das beste Buch, das ich je gelesen habe." In Interviews gibt er gelegentlich fast zu, der Autor zu sein, entzieht sich dabei jedoch stets einem vollständigen Eingeständnis. Unabhängig davon, ob er tatsächlich jedes Wort davon selbst geschrieben hat, geht er auf seine Weise einer Verbindung damit aus dem Weg. Und es ist ein Bestseller: ein Schlüsselbekenntnis der Ära, die dem am nächsten kommt, was wir überhaupt von den Gedankengängen im Innern des Systems zu sehen bekommen. Der Roman ist eine Satire auf das heutige Russland, dessen Held, Jegor ein korrupter PR-Mann ist, der jedem zu Diensten ist, der ihm die Miete zahlt. Früher war er Herausgeber von Avantgarde-Gedichten, jetzt kauft er Texte von verarmten Untergrundschriftstellern, und verkauft die Rechte an reiche Bürokraten und Gangster mit künstlerischen Ambitionen, die sie unter ihrem eigenen Namen veröffentlichen. In dieser Welt sind alle käuflich; selbst die "liberalsten" Journalisten haben ihren Preis. Die Welt der PR und des Verlagswesens, wie sie im Roman dargestellt werden, ist gefährlich. Die Verlage haben ihre eigenen Gangs, deren Mitglieder sich gegenseitig wegen der Rechte an Nabokov und Puschkin über den Haufen schießen, und die Geheimdienste infiltrieren sie aus ihren eigenen dunklen Gründen. Es ist eigentlich genau die Art von Buch, das Surkows Jugendgruppen auf dem Roten Platz verbrennen. Jegor wächst nach seiner Geburt In der russischen Provinz als Sohn einer alleinerziehenden Mutter und in Bücher vernarrter Hipster auf, von der Schein-Ideologie der späten Sowjetunion entzaubert. In den 1980-er Jahren zieht er nach Moskau und kommt mit dem Rand der Bohème in Berührung; in den 1990-er Jahren wird er ein PR-Guru. Das ist ein Hintergrund, der viel gemeinsam hat mit Surkows Leben, oder von dem, was wir davon wissen, denn er lässt nur die Informationen an die Presse kommen, die er für richtig hält. Er wurde 1964 geboren, als Sohn einer russischen Mutter und eines tschetschenischen Vaters, der die Familie verließ, als Surkow noch ein kleines Kind war. Ehemalige Schulkameraden erinnern sich an ihn als jemanden, der Späße mit den Haustieren der Lehrer in der Komsomol trieb, Samt-Hosen trug, lange Haare wie Pink Floyd hatte, Gedichte schrieb und bei den Mädchen Erfolg hatte. Er war ein glatter Einser-Schüler, dessen Aufsätze über Literatur von den Lehrern im Lehrerzimmer laut vorgelesen wurden; er war nicht nur in seinen Augen zu klug, um an das soziale und politische Umfeld um ihn herum zu glauben. "Die revolutionäre Dichter Majakowski behauptet, dass das Leben (nach der kommunistischen Revolution) gut ist und es gut ist, am Leben zu sein," schrieb der Teenager Surkow in Zeilen, die für einen sowjetischen Schüler auffallend subversiv waren. "Aber das hat Majakowski nicht daran gehindert, sich einige Jahre später selbst zu erschießen." Nach seinem Umzug nach Moskau verfolgte Surkow zunächst eine Reihe von Hochschulkarrieren von der Metallurgie bis zur Theaterregie - und gab sie wieder auf -, fand dann in der Armee einen gewissen Zauber (wo er möglicherweise in der Militärspionage gedient hat) und war regelmäßig in heftige Auseinandersetzungen verwickelt (er flog deswegen von der Schauspielschule). Seine erste Frau war Künstlerin, berühmt für ihre Sammlung von Theaterpuppen (die Surkow später zu einem Museum ausbaute). Und während Surkow reifer wurde, experimentierte Russland in schwindelerregender Geschwindigkeit mit verschiedenen Modellen: Die sowjetische Stagnation führte zur Perestroika, die zum Zusammenbruch der Sowjetunion, liberaler Euphorie, wirtschaftlicher Katastrophe, Oligarchie und zum Mafia-Staat. Wie kann man noch an irgendetwas glauben, wenn alles um einen herum sich so schnell verändert? Er wurde von der Bohème-Szene in Moskau angezogen, in der Performance-Künstler das Gefühl der schwindelerregenden Wandelbarkeit zu erfassen begannen. Keine Party war vollständig ohne Oleg Kulik (der den tollwütigen Hund gab, um die Gebrochenheit der postsowjetischen Menschen zu zeigen), German Winogradow (der nackt auf die Straße ging und sich mit Eiswasser übergoss) oder später Andrej Bartenjew (der sich als Außerirdischer verkleidete, um zu zeigen, wie seltsam diese neue Welt war). Und natürlich Wladik Mamyschew-Monroe. Hyper-Camp und mit einem Repertoire voller Posen, war Wladik ein postsowjetischer Warhol gemischt mit RuPaul. Russlands erster Travestiekünstler begann Marilyn Monroe und Hitler zu imitieren ("die beiden größten Symbole des 20. Jahrhunderts", pflegte er zu sagen) und dann damit fortfuhr, russische Popstars, Rasputin und Gorbatschow als Inderin darzustellen; er erschien auf Parties als Jelzin, Tutanchamun oder Karl Lagerfeld. "Wenn ich eine Aufführung mache, dann werde ich für einige Sekunden zu meinem Thema", wie Wladik zu sagen pflegte. Seine Imitationen waren immer zwanghaft genau, bis ins Extremste, bis an den Punkt, an dem das Bild der Person beginnen würde, sich selbst zu offenbaren und zu untergraben.

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"Dies war der erste nicht-lineare Krieg," schreibt Surkow in einer neuen Kurzgeschichte, "Ohne den Himmel", das er unter seinem Pseudonym veröffentlicht hat und in einer dystopischen Zukunft nach dem "fünften Weltkrieg" spielen lässt:In den primitiven Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts war es üblich, dass nur zwei Seiten gegeneinander kämpften. Zwei Länder. Zwei Gruppen von Verbündeten. Jetzt kollidieren vier Koalitionen. Nicht zwei gegen zwei oder drei gegen einen. Nein, alle gegen alle.Es gibt keine Erwähnung von heiligen Kriegen in Surkows Vision, nichts aus dem Kabarettrepertoire, das sonst verwendet wird, um den Westen zu provozieren und zu necken. Aber es gibt eine dunkle Vision der Globalisierung, in denen alle - statt zusammen aufzusteigen - Teil der Wechselwirkungen mehrerer Wettbewerbe zwischen Bewegungen und Unternehmen und Stadtstaaten sind - wo die alten Allianzen, die der EU und der NATO und "des Westens", sich alle abgenutzt haben, und wo der Kreml spielen kann mit den neuen, schwankenden Linien der Loyalitäten und der Interessen, den Strömen von Öl und Geld, und somit Europa und Amerika spalten kann, eine westliche Gesellschaft gegen eine andere und jeweils gegen ihre Regierungen ausspielen kann - und so weiß niemand, wessen Interessen das sind und was damit bezweckt wird. "Ein paar Provinzen würden einer Seite beitreten," sagt Surkow weiter, "ein paar andere der anderen. Eine Stadt oder eine Generation oder ein Geschlecht würde einer weiteren beitreten. Dann könnten sie die Seiten wechseln, manchmal mitten in der Schlacht. Ihre Ziele waren ganz andere. Die meisten verstehen den Krieg als Teil eines Prozesses. Das ist nicht unbedingt sein wichtigster Teil." Der Kreml ändert die Nachrichten nach Belieben - zu seinem Vorteil, er kriecht ins Innere von allem: europäische rechte Nationalisten werden mit einer Anti-EU-Rhetorik verführt; die extreme Linke wird verführt mit Geschichten von Kämpfen gegen die US-Hegemonie; Die religiösen Konservativen in den USA werden vom Kampf des Kreml gegen die Homosexualität überzeugt. Und das Ergebnis ist eine Vielzahl von Stimmen, die aus verschiedenen Blickwinkeln auf globale Zielgruppen einwirken, was zu einem kumulierten Echo der Kreml-Unterstützung führt, und alles wird auf RT berichtet.
