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Annahme verweigert! Replik von Anna Veronika Wendland

Warum der Appell “Wieder Krieg in Europa? Nicht mit uns!” nicht nur an die Falschen geht, sondern auch falsch ist

Einiges ist übers Wochenende bereits zu diesem bizzarren Appell von rund 60 deutschen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gesagt worden. Am besten wurde das von Karl Schlögel in der WELT auf den Punkt gebracht, der das von keiner Sach- und Fachkenntnis getrübte Geschichtsbild der UnterzeichnerInnen aufs Korn nimmt und das ganze Unternehmen ein Dokument der Peinlichkeit nennt.

Ich würde allerdings hinzufügen: es ist auch ein Dokument der Perfidie, und zwar jener typisch deutschen Perfidie, welche sich immer dann als Kollateralschaden einstellt, wenn Menschen, die sich für Wohlmeinende halten, sich vorsätzlich dem klaren Denken verweigern.

Um die Mitunterzeichnerin Margot Kässmann zu paraphrasieren: nichts ist momentan gut in Russland, und deswegen ist auch in der Ukraine einiges sehr schlecht. Und nichts ist gut an diesem Aufruf, der die seit Beginn des Krieges in der Ukraine schon wohlbekannte verlogene Äquidistanz zu Täter und Opfer genauso pflegt wie die systematische Vertauschung von Ursache und Folge. Und deswegen behaupte ich, dass hier nicht nur Dummheit oder politische Naivität am Werke ist, sondern auch Vorsatz.
Akteure, Sprache und Motive sprechen für diese Hypothese.

1) Die Akteure

Die vorsätzliche Verweigerung des Verstandesgebrauchs um des Weltfriedens willen scheint samt und sonders der Fall zu sein in einer abtretenden Kaste westdeutscher um-jeden-Preis-Pazifisten wie Eppler, Möchtegern-Weltpolitiker wie Teltschik oder larmoyanter Kulturträger wie Mey. Keiner dieser drei “Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens”, wie auch 98% der restlichen Gruppe, ist durch Expertise, Sprach- oder Landeskenntnis des östlichen Europa irgendwie berufen, über Fragen von Krieg und Frieden dort zu urteilen. Dennoch maßen sie es sich an.

Die einzige, die ich als des Russischen mächtig identifizieren konnte, ist die ehemalige Moskau-Korrespondentin der ARD, Gabriele Krone-Schmalz, die sich seit einiger Zeit mit Behauptungen hervortut, die EU trage die Schuld an der Eskalation in der Ukraine. Diese Russophilie für Klinkenputzer, die sich der Propaganda der erniedrigten und beleidigten Tschekisten in Moskau anverwandelt, taugt womöglich für die Ergatterung eines Exklusivinterviews bei Putin, nicht aber zur leidenschaftslosen Analyse der inneren Verhältnisse in Russland, die uns diesen Krieg beschert haben. Im Schlepptau dieser unkritischen Russlandkennerschaft fahren etliche weitere selbsternannte Kenner und Lobbyisten, einige mit subjektiv ehrenwerten Motiven, andere mit weniger ehrenwerten.

2) Die Vertauschung von Täter und Opfer, Ursache und Folge.

Wir erfahren in dem Schreiben zu unserer Überraschung, dass Krieg in Europa drohe und dass den Deutschen die Schlüsselrolle dabei zukomme, ihn zu verhindern. Und wir hören mit Erstaunen, dass der Westen es genauso sei, der mit Russland an der Spirale der Gewalt drehe.

Man muss kein Historiker sein, um wie Karl Schlögel dieses Dokument schon aufgrund seiner Unwahrheiten und Halbwahrheiten zu Unsinn zu erklären. Man muss nur ein aufgeklärter Mensch sein, ob Physiker, Hausmann oder Historikerin: bereit, sich seines und ihres Verstandes zu bedienen, und einen Text kritisch zu lesen.

Die Überschrift suggeriert, es sei ja alles ganz anders, als wir denken, wenn wir russische Soldaten und Waffen auf ukrainischem Territorium sehen, russische Abzeichen und Kennzeichen auf Panzern in der Ukraine, und russische Akteure, die sich mit “neurussischen” Heldentaten brüsten. Nein, es ist alles ganz anders. Deswegen wird in der Diktion der friedensbewegten 1980er ein “NICHT MIT UNS” ausgesprochen – die vorgeblich mutige Ankündigung, sich einem angeblich in Europa sich anbahnenden Krieg zu verweigern.

Diese Behauptung hat nur insofern militärischen Gehalt, als sie eine gleich zweifache Kriegserklärung darstellt – an Logik und Realität nämlich. Denn in Wirklichkeit herrscht bereits Krieg in Europa – in der russisch besetzten bzw. von russischen Auftrags-Gewaltunternehmern heimgesuchten Ukraine. Diese zählen die Unterzeichner womöglich nicht zu Europa, sonst hätte ihnen diese Tatsache nicht entgehen können. Wohl aber zählen sie Russland dazu, das sie gleich mehrmals seiner historischen europäischen Zugehörigkeit versichern, als ob die Russen diese deutsche Herablassung nötig hätten.
Die zweite Unwahrheit liegt in der Metapher der Gewaltspirale, in die wir angeblich hineingeraten seien. Sie impliziert, hier seien gleiche Kräfte am Werke, die an der Spirale drehen. Sonderbarerweise geht aber der Appell an die Bundesregierung – nicht aber zumindest zu gleichen Teilen an Moskau und Berlin. Nein, zuerst wird der Westen rangenommen, mit der Expansion von NATO und EU. Dann, an zweiter Stelle, Russland, dass durch die Satzkonstruktion und die mitgelieferten “historischen” Informationen als der in die Enge getriebene Part schon halb exkulpiert wird. Ungenauigkeiten und Unwahrheiten inklusive, denn weder gibt es für die Ukraine NATO-oder EU-Beitrittsverhandlungen, noch war es der alte Westen, der seine Bündnisse expansiv ausdehnte – die Partner kamen ihm, begleitet von demokratischen Entscheidungsprizessen, aus eigener Initiative entgegen. Sie sehen sich mit Blick auf die Ukraine heute bestätigt. Deren Lage beweist, was man riskiert, wenn man in Russlands Nachbarschaft sowohl atomwaffen- als auch blockfrei bleibt.

Auf den Gedanken, es könne sich um eine einseitige Eskalation, nämlich eine vom Russland ausgehende, handeln, kommen die Unzerzeichner erst gar nicht, genauer gesagt: dieser Gedanke ist tabu. Ein russisches politisches Handeln wird überhaupt nur einmal in diesem Text erwähnt – die Annexion der Krim. Aber nur, um sie sogleich mit westlichen Akten der angeblichen Eskalation gleichzusetzen.

Die Verdrehung der Verhältnisse setzt sich fort mit der sonderbaren Formulierung, “nicht nur die Polen, Balten unld Ukrainer” hätten ein Sicherheitsbedürfnis, sondern “auch” die Russen, um dann wieder einmal mit dem Leiden der Russen im Zweiten Weltkrieg aufzuwarten, ohne die Leiden der Sowjetrepublik Ukraine mit einem Wort zu erwähnen. Holla, da hat sich aber jetzt mal jemand getraut, ein Tabu zu brechen! Als ob es nicht gerade der mainstream wäre, der immer noch die Sowjetunion mit Russland verwechselt, die Sicherheitsinteressen der Ukraine ignoriert oder delegitimiert. Aber das sind historische peanuts im Vergleich zu der perfiden Vertauschung von Ursache und Wirkung. So wie dieser Satz da steht in seinem falschen Logik und seiner Harmlosigkeit, könnte man fast meinen, als habe die Ukraine aus Sicherheitserwägungen Russland überfallen.

Aber damit nicht enug. Wir hören es außerdem noch mächtig ethnozentrisch raunen, von “Völkern” ist da die Rede, die angeblich pauschal verunglimpft würden in deutschen Medien. Gemeint ist natürlich das russische “Volk”, das aber die Unterzeichner mit der Regierung im Kreml verwechseln, die in den Qualitätsmedien kritisiert wird. Aus irgendeinem mir unerfindlichen Grunde feiert beim Reden über “die Russen” in Texten wie diesem die völkische und auch die Putinsche Grundannahme feierliche Urständ, Volk und Gefolgschaft seien dasselbe.

Nebenbei ist zu fragen, wo eigentlich die Entrüstung der Verfasser über die notorische Schelte am ukrainischen “Volk” bleibt, die in der deutschen Berichterstattung jenseits von FAZ und SZ weit verbreitet ist und die unter anderen von einem der Unterzeichner, Erhard Eppler, ausgeht. Der erklärt zwar immer wieder die “Russen” zur europäischen Kulturnation (als ob das je jemand bezweifelt hätte), wirft aber den Ukrainern gerne pauschal ihre angeblich fehlende politische Kultur und ihren angeblichen Rechtsextremismus vor, was gleichbedeutend mit einem Ausschluss aus dem Epplerschen Kultur-Europa ist. Daran ändern auch zwei demokratische Wahlen unter widrigsten Bedingungen nichts, bei denen die ukrainischen Wähler (deren viele übrigens sprachlich auch zur russischen Kulturnation gehören) den Rechten eine Abfuhr erteilten.

In der Bilanz ist festzustellen: Was wir hier beobachten, ist, was ich an anderer Stelle LINGUA RUSSIAE IMPERII genannt habe: das schleichende Umsichgreifen russischer Propaganda-Logiken und manipulativer, suggestiver Sprachregelungen in deutschen Köpfen, die als intellektuell zu bezeichnen ich mich inzwischen scheue.

3) Motiv: Opportunismus

Diese Verweigerung, Ross und Reiter, Opfer und Täter zu nennen – das ist Vorsatz und nicht nur Dummheit. Oder präziser ausgedrückt, es ist aus Dummheit und Feigheit erwachsender Vorsatz.

Dummheit: hier betteln Deutsche in einem unerklärten schmutzigen postkolonialen Krieg, den sie sich zum kommenden Weltkonflikt umlügen, um den Aggressor nicht nennen zu müsssen, um einen Separatfrieden. Sie wollen so gern, dass Putin wieder gut ist mit ihnen. Und wenn es ein Weltkonflikt ist, sind ja irgendwie alle schuld, und wir können, wie es unsere deutsche Art ist, dann dazu aufrufen, demütig den ersten Schritt zur Versöhnung zu machen. Nur führt dieser Schritt leider über ukrainisches Territorium. Und mit Tips an die Ukrainer, welchen Teil ihres Territoriums sie doch um des lieben Friedens willen abgeben könnten, kennen sich die Deutschen gut aus. Der Klügere gibt nach, nennt Matthias Platzeck das.

Feigheit: diesen Leuten geht es bei der Rettung des Weltfriedens vor allem um die Rettung ihres eigenen Wohlbefindens, Seelenfriedens und Geltungsbedürfnisses. Sanktionen gegen Russland? Davor haben diese Leute wirkliche, heilige Angst – auch wenn diese Sanktionen, wären sie nur früh und hart und gleich nach der Krim-Invasion gekommen, womöglich das russische Abenteuer in der Ostukraine hätten verhindern können. So haben sie aber vielleicht immerhin Mariupol, Charkiv und Odesa gerettet. Und auch das ist viel wert: Menschenleben nämlich.

Doch Mariupol und Odesa und der real existierende Krieg sind unseren deutschen Friedenstauben egal, da sie lieber in Moskau zumindest geistig ein- und ausflattern. Sanktionen sind die Hauptsorge im deutschen Taubenschlag. Die könnten die Stabilität des Weltfriedens gefährden, und nebenbei gefährden sie natürlich auch die deutschen Industrieinteressen in Russland, die bei einem ewigen Putin natürlich in den besten Händen wären, und die auch einigen abgehalfterten Politikern das eine oder andere Forums-Pöstchen und die eine oder andere Beratungspfründe sichern.

Dass diese Stabilität die eines Friedhofs ist – im Falle der Ukraine die Stille eines Niemandslands und Soldatenfriedhofs, in dem die zerfetzten Leiber der Verteidiger neben jenen der “Touristen” und anderweitig “verirrten” russischen Kämpfer liegen – das ist diesen Friedenskämpfern vollkommen gleichgültig – oder sie verdrängen es erfolgreich. Mit dem Reden vom Bürgerkrieg zum Beispiel.

Der Krieg wird in die Zukunft verlegt, aber der Zukunftskriegsgewinnler steht schon parat. Es ist der russische Präsident, der sich für die Schützenhilfe schon bedankt hat, mit vielen Wiedergaben des Aufrufs in den russischen Staatsmedien. Zweifellos ein Qualitätsausweis.

Diejenigen Kriegsverhinderer, die hier ihr Hirn bei Putin zu Markte tragen, um ihre Haut zu retten – sie vermeinen, das Vermächtnis der Entspannungspolitik von einst zu retten, der sie einen Platz in der Geschichte erobern wollen. Doch eigentlich haben sie sie verraten. Verrat üben sie an dem, was damals ein unerlässlicher Bestandteil der Entspannungspolitik neben politischer Klimapflege und Abrüstungsverhandlungen war, nämlich der Menschen- und Bügerrechts”korb” im KSZE-Prozess.

Die zahnlose politische Klasse und die pseudolinke Kulturelite aus dem alten Westdeutschland versteht die Welt nicht mehr. Wer nach einem Beweis dafür suchte, dass diese Leute tatsächlich von nichts mehr etwas verstehen, aber nicht von ihrer liebgewordenen Rolle der Berufsbesorgten und Profimahner ablassen wollen – der sollte diese widerliche, in Besonnenheits-Rhetorik verpackte Kapitulationserklärung lesen. Denn unsere Friedenskämpfer kapitulieren. Es ist zweitrangig, dass sie vor einem idealisierten und misssverstandenen Russland kapitulieren. Aber es ist bezeichnend, dass sie vor Expansionismus, Nationalismus, patriotischer Scheinheiligkeit und chauvinistischer Paranoia den Schwanz einziehen.
Ich wünsche diesen Unterzeichnern, dass sie unter sich bleiben. Richtig: NICHT MIT UNS. Nicht mit uns Osteuropa-Experten, die ihren Beruf ernst nehmen. Und nicht mit uns als kritischen Zeitgenossen. Annahme verweigert.

wendlandvon Anna Veronika Wendland, Historikerin am Herder-Institut, Marburg

Quelle: Facebook AnnaVero Wendland

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