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Dekonstruktion einer Ohrfeige an die Ukraine

Von Johann Zajaczkowski

Der Aufruf “Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!” zeigt vor allem eins: Dick aufgelegtes Pathos vom Altherrenverein, staatsgetragen auf dem Rücken ahnungsloser Kunstschaffender reicht heutzutage offenbar aus, um dem deutschen Kapital und seinen wirtschaftlichen Zwielichtern die Kosten einer Werbeanzeige zu ersparen. Eine Replik.

Die Kybernetiker wissen es schon lange, und dank Luhmann weiß es die Zunft der Geisteswissenschaftler auch: Beobachtungen zweiter Ordnung – also Beobachtungen der Beobachter – fördern bisweilen interessante Erkenntnisse zutage. Dieser Befund gilt auch für den unlängst unterzeichneten Appell von mehr als 60 Prominenten und/oder Persönlichkeiten.

Analog zu den Ideen des Gesellschaftstheoretikers werfen wir also zunächst einen Blick hinter die inhaltliche Sprachkulisse des Aufrufs und richten unser Augenmerk auf die möglichen Beweggründe und Intentionen der Unterzeichner des Textes.

Werbeplatz für Wirtschaftsinteressen

Die offiziellen Professionsangaben der der illustren Gesellschaft sind aufschlussreich – und irreführend. 17 der insgesamt 65 Unterschriften stammen von Alumni der politischen Elite. Den Verfassern ist dies ein willkommener Vorwand, um den derzeitigen Broterwerb einiger Mitglieder dieser Politikgarde a.D. zu verschweigen.

Verwunderlich ist das nicht. Schnell verliert der Aufruf seinen Impetus durch unschöne Ausreißer wie etwa Ex-Kanzler Gerhard Schröder. Krieg ist zwar nicht immer schlecht fürs Geschäft, im Falle des Krieges in der Ukraine aber jagt er die Energiepreise in den Keller. Pech für die Aktionäre der North Stream AG – und Pech für Schröder, der als Vorsitzender des Aktionärsausschusses besagter AG dessen Shareholder bei Laune halten muss. Die wird´s nicht freuen, wenn der sinkende Ölpreis bald voll auf die Gaspreise durchschlägt. Vor diesem Hintergrund liest sich die geforderte „neue Entspannungspolitik für Europa“ wie ein Aufruf zur Glättung wirtschaftlicher Wogen.

Auch andere Ex-Politiker dürften nicht etwa aufgrund ihrer Sehnsucht nach Frieden zum Stift gegriffen haben – etwa Ernst-Jörg von Studnitz, der ehemalige Botschafter Deutschlands in Moskau. Dieser durfte der deutschen Wirtschaft bis zur Wachablösung durch Matthias Platzeck zehn Jahre lang als Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums unter gemeinnütziger Flagge den Steigbügel halten. Gleich und Gleich gesellt sich gern, und so versteht es sich von selbst, dass mit Eckhard Cordes der Chef des Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft mit von der Partie ist, ebenso wie sein Vorgänger Klaus Mangold, der ganze zehn Jahre die Geschicke dieses Lobbyvereins gelenkt hat.

In diesem Zusammenhang wäre auch danach zu fragen, warum Lothar de Maizière unter dem Motto „Ministerpräsident a.D.“ firmiert. Weshalb das Kind nicht beim Namen nennen? In seiner Eigenschaft als unkritischer Vorsitzender des Lenkungsausschusses des Petersburger Diktats Dialogs ist er derzeit ohnehin in aller Munde.

Die „Fortschritte der vergangenen 25 Jahre in den Beziehungen mit Russland“, die der Initiator des Appells, der ehemalige Kanzlerberater Horst Teltschik, wahrgenommen haben will, so richtig deutlich vernehmbar sind sie nicht – dafür brummt die deutsche Exportwirtschaft einfach zu laut.

Putin aus der Schusslinie bringen

Im Gegensatz dazu nehmen sich die Motive etwa vom Vorstandsvorsitzenden des Semper Opernballs Dresden, Hans-Joachim Frey, geradezu klandestin aus. 2009 wurde im Rahmen der Feierlichkeiten unter seiner Ägide der St. Georgs-Orden an Staatslenker Putin verliehen. Wie sich ein ehemals in Dresden stationierter KGB-Spitzel um jenen Orden verdient gemacht haben soll, wurde damals nicht gänzlich beantwortet. Der Umstand, dass eine gleichnamige Zigarettenmarke in Russland die Popularität des heiligen Märtyrers dortzulande stark befördert hat, dürfte jedenfalls keine große Rolle gespielt haben. Die sächsische Staatskanzlei nuschelte indes verlegen etwas von sächsisch-russischem Kulturaustausch aufs Papier und verwies im Übrigen auf die Organisatoren des Semperopernballs, denen die Idee zu der fragwürdigen Verleihung gekommen sei.

Für Frey, der sich auf dem Ball mit Putin anfreundete, hat sich der Kniefall jedenfalls bezahlt gemacht. Im Frühling dieses Jahres nahm er eine durch Putin höchstpersönlich lancierte Stelle am Bolschoi-Theater in Moskau an. Was läge näher, als die Blutsbrüderschaft mit einer Unterschrift unter den Appell zu besiegeln? „Es geht nicht um Putin“, heißt es in dem Appell. Klar, schließlich will die Hand, die einen füttert, schnell aus dem Beißradius der deutschen Öffentlichkeit gebracht werden.

Was gesagt werden muss

Bislang war von Profitmaximierung und Gunstbeweisen die Rede. Was bewegt jedoch zahlreiche Kunstschaffende dazu, den Aufruf zu unterzeichnen? Neben namensstarken Aushängeschildern wie Wenders oder Brandauer sind es vor allem Schriftsteller, die den Appell unterstützen – darunter zweifelsohne ehrenwerte und respektable Menschen.

Allerdings ist das Verhältnis zwischen geschriebener Textkunst und Politik kein Symbiotisches. Auch dem Schreiber kann es an einem grundsätzlichen Politikverständnis mangeln. Die gewagte Vermutung zu diesem Befund: Ein Schriftsteller denkt qua Berufsstand in lebendigen Kategorien, er ist an die Froschperspektive gebunden, will er seine Erzählung mit Leben füllen. Der krasse Gegensatz dazu ist Weltpolitik: Sie ist ein großes Abstraktum, ein konstruiertes Universum von Staaten und Interessen, verbunden durch unzählige simultan ablaufende Interaktionen.

Für den Schreiber bedeutet dies vor allem eins: Politik im großen Maßstab spielt sich außerhalb seiner Erfahrungswelt ab; um sie zu verstehen, ist er, wie alle anderen auch, auf Nachrichten und Berichte angewiesen. In dieser Situation gelingt es einem guten Schriftsteller etwa, den Menschen, der aus einer politischen Vogelperspektive nur als Nebenprodukt auftaucht, als Subjekt ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken.

Im besten Fall weist die Beschreibung über sich selbst hinaus und lässt die richtigen Induktivschlüsse zu, die den Sinn für das Politische bedeutend schärfen können – eine Garantie dafür gibt es indes nicht. Das Gedicht „Was gesagt werden muss“ von Günther Grass ist noch die leichteste Beute dieses Arguments, doch auch die Einlassungen des russischstämmigen Schriftstellers und Mitunterzeichners Eugen Ruge zur Krim-Krise sind eher das Zeugnis trotziger Wut denn politischen Scharfsinns.

Im Übrigen haben viele der Schriftsteller eines mit den immerhin acht unterzeichnenden Vertretern der Gotteszunft gemeinsam, und das ist die Herkunft aus der DDR. Es scheint fast, als wäre die weihevolle Friedens- und Einheitsrhetorik nur deshalb mit in den Text genommen worden, um ehemaligen Bürgerrechtlern und Dissidenten die Entscheidung zur Unterschrift zu erleichtern. Dass die Rhetorik nur wenig mit der heutigen politischen Situation zu tun hat, fällt nicht auf, wenn das Herz die Kontrolle über den Verstand übernimmt. Putin ist nicht Gorbatschow, dessen neues Denken die deutsche Einigung ermöglicht hat. Möglicherweise befördern seine historischen Leistungen das Maximalverständnis gegenüber Russland.

Die traditionelle Objektivität der „Bloodlands“

Nun zum eigentlichen Inhalt. Wie Zeit-Redakteur Carsten Luther in seinem Kommentar zu dem Aufruf treffend bemerkt hat, sticht vor allem die Reduktion der Ukraine auf ein reines geopolitisches Objekt ins Auge.

In zahlreichen Publikationen wird die Ukraine mal als Opfer eines neoliberal-zwangsdemokratischen EU-Imperialismus dargestellt, mal muss sie als Prothese einer identitätsamputierten Sowjetunion herhalten. Angesichts des (trotz Waffenruhe) nach wie vor heftig tobenden Krieges mit täglichen Todesmeldungen ist der Satz „Niemand will Krieg. Aber Nordamerika, die Europäische Union und Russland treiben unausweichlich auf ihn zu“ besonders zynisch – die real existierenden Schlachtfelder in der Ostukraine, für den geopolitischen Kampf der Großmächte sind sie nicht weiter von Belang.

Das hat Tradition, die von den Verfassern des Aufrufs zu allem Überfluss auch noch durch historische Stümperei zementiert wird. Denn: anders als die Autoren schreiben, zog Hitler-Deutschland 1941 nicht aus, um „Russland zu unterwerfen“, sondern die Sowjetunion, einen Vielvölkerstaat, dem auch die Ukrainischen Sowjetrepublik angehörte. Von den insgesamt 20 Millionen sowjetischen Opfern des Zweiten Weltkrieges war ein Großteil ukrainischer Herkunft – oder, um es mit Andreas Umland territorial zu wenden: „Nicht der heutige russische Staat, sondern einige Länder zwischen den deutschen Reichsgrenzen von 1937 und der früheren RSFSR waren die Schauplätze der größten Vernichtungsaktionen Nazideutschlands.“

Die Einkreisungsangst Russlands

Das nächste zentrale Argumentationsmuster wirbt um Verständnis für die Einkreisungsängste Russlands. Demnach sei das Bedürfnis der Russen nach Sicherheit ebenso legitim und ausgeprägt wie das der Deutschen, der Polen, der Balten und der Ukrainer. Dieses Bedürfnis wird jedoch fälschlicherweise als abstrakte und unveränderliche Konstante verstanden, wodurch einige nicht unwesentliche Nuancierungen ausgeblendet werden.

Erstens können sich Bedrohungsgefühle wandeln. Die Polen etwa, die allen Grund dazu hätten, fühlen sich nicht länger durch Deutschland bedroht, ebenso wenig wie die Franzosen. Warum tut sich die Russische Föderation so schwer damit? Das hat weniger mit subjektiven (und damit nachvollziehbaren) Befindlichkeiten als mit innenpolitischen Machterwägungen zu tun. Regierungs-, Militär- und Geheimdienstkreise profitieren gleichermaßen vom Aufbauschen eines äußeren Feindes. Die Angst vor Russland wurde in den mittel- und osteuropäischen Staaten zwar ebenfalls sorgsam kultiviert –in diesem Fall jedoch völlig zu Recht, wie sich nun herausgestellt hat.

Beim äußeren Feind ist meist von der NATO die Rede. Der Aufruf wirbt ebenfalls um Verständnis für „die Furcht der Russen“, die nach dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 und der Einladung des Bündnisses an Georgien und die Ukraine kulminierte. Damit stellen die Unterzeichner Russland indirekt einen Freifahrtschein aus – ganz so, als hätte der große Bär Russland nur deshalb zugebissen, weil ihn der Westen vorher mit spitzen Stöcken gereizt hat.

Dabei wird übersehen, dass Russland prinzipiell nichts gegen die NATO einzuwenden hat. Warum sollte es auch, schließlich handelt es sich bei der überwältigenden Mehrheit der NATO-Staaten um saturierte, stabile und kriegsaverse Demokratien – im Gegensatz zu Russland, das meilenweit vom acquis communautaire der NATO entfernt ist und durch seinen militarisierten Konfliktlösungsmechanismus (siehe Tschetschenien) selbst die größte Bedrohung innerhalb einer russlanderweiterten NATO wäre.

Der ersten NATO-Osterweiterung hat das Land freimütig zugestimmt, daraufhin wurde die Zusammenarbeit zwischen Russland und dem Verteidigungsbündnis institutionalisiert. Ginge es also tatsächlich um das Bedürfnis nach Sicherheit, eine umfassende Pufferzone aus NATO-Ländern müsste den russischen Militärs eigentlich Freudentränen in die Augen treiben.

Entspannung ohne Abschreckung

Von Entspannungspolitik ist in dem Aufruf ebenfalls viel die Rede. Vergessen wird dabei, dass diesem im Kalten Krieg entwickelten Konzept erst die totale Abschreckung auf nuklearer Grundlage vorausgehen musste. Nur diese pervertierte Rationalität zwang die Beteiligten dazu, Wege aus der Rüstungs- und Drohspirale zu suchen. Warum sollte dies heute anders sein? Die Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft, von habituellen Schmähungen des russischen Staatspräsidenten auf der Weltbühne hin zu Sanktionen, können vor diesem Hintergrund nur schwerlich als wirksame Abschreckungspolitik angesehen werden.

„Gleiche Sicherheit für alle“, arglos von den Unterzeichnern als Grundlage einer neuen Entspannungspolitik gefordert, für die Ukrainer muss sie wirken wie ein Schlag ins Gesicht. Nur in den Weltgegenden, die nicht auf nukleare Abschreckung bauen können, sind konventionelle Kriege noch denkbar, hat der französische Kriegstheoretiker André Beaufre Ende der 1960er Jahre geschrieben.

Dieser Satz ist heute leider nach wie vor gültig. Die Ukraine verlor ihre Sicherheitsgrundlage in jenem Moment, in dem die letzte Kernwaffe ukrainischen Boden verließ und das Land die Sicherheitsgarantie nuklearer Abschreckung gegen die Lippenbekenntnisse des Budapester Memorandums tauschte.

johannAutor: Johann Zajaczkowski hat in Warschau und Trier Politikwissenschaft und Öffentliches Recht studiert und arbeitet derzeit in der Ukraine als Fachlektor an der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie.

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