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Krieg: eine juristische Analyse, von Stanislaw Dmitrijewskij

von Stanislaw Dmitrijewskij, Grani.ru (24.10.2014)

In den letzten Tagen geschah etwas, was mich völlig überrumpelte. Meine langjährige und herzliche Kollegin, die aus der Ukraine zurückkam, kommentierte meine Unterstützung für die Souveränität und die territoriale Integrität dieses Staats und erklärte direkt, dass ich an der Ermordung der Kinder im Donbas eine Mitschuld trüge. Auf die bangen Versuche zu widersprechen, wurde mir vorgeschlagen, doch in den Donbas zu fahren und selbst Kinder zu töten, auf eigene Kosten, oder ich würde als Menschenrechtler sterben (das sagte sie so wörtlich).

Meine Opponentin hatte ungefähr folgende Argumentation: 1) Der bewaffnete Konflikt in der Ukraine ist ein interner Konflikt (mit Verweis auf die Stellungnahme des Internationalen Roten Kreuzes). 2) Es handelt sich um einen Bürgerkrieg, der von „Kolomojskij angezettelt“ wurde. 3) Russland nimmt in diesem Krieg nicht teil, es ist nicht eine der Konfliktparteien, es gibt ganz offensichtlich keine russischen Truppen im Donbas, da dies weder von der OSZE noch von meiner Gesprächspartnerin bestätigt wurde. 4) Die Einnahme der Krim durch Russland steht in keiner Beziehung zum Krieg in der Ukraine: „Krim und Donbas – das sind zwei unterschiedliche Paar Stiefel.“ 5) All diejenigen, die die Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine unterstützen, sind gemeinsam für den Tod von Zivilpersonen  verantwortlich, die durch unkontrollierte Schüsse auf Siedlungen durch den Ukrainischen Sicherheitsrat umkamen.

Als Antwort auf meinen Versuch, die Unterhaltung von der emotionalen auf die juristische Ebene zu verlegen, wurde als letztes und einziges „juristisches“ Argument das Blutvergießen an Mädchen und Jungen in Donezk angeführt.

Leider ist diese Sichtweise und die Art, Diskussionen zu führen, nichts Besonderes. Es ist charakteristisch für einen Teil der Menschenrechtler und der Zivilgesellschaft. Deshalb halte ich es für wichtig, meine Position bezüglich Rechtsfragen zur Situation in der Ukraine darzulegen. Ich unterstreiche, dass es sich hier um meine juristische Position handelt, unabhängig von meinen politischen Sympathien und Antipathien, die ich ganz klar habe, aber die ich versuche in diesem Text auszuklammern.

Es versteht sich von selbst, dass in diesem Text nicht alle Aspekte der derzeitigen Situation behandelt werden können. So werde ich zum Beispiel auf das Rechts von Völkern auf Selbstbestimmung und das Recht eines Staats auf sogenannte „humanitäre Interventionen“ nicht eingehen. Beide Fragen sind sehr umfangreich und fordern eine separate Auseinandersetzung. Im Folgenden betrachte ich die wichtigsten Aspekte, die in der oben erwähnten Diskussion angesprochen wurden: das Recht eines Staats auf Selbstverteidigung vor einem Aggressor und auf den Schutz der Kriegsopfer.

 

  1.       Der Unterschied zwischen jus ad bellum und jus in bello

Im Völkerrecht wird zwischen jus ad bellum – das Recht eines Staats auf die Nutzung von Streitkräften zurückzugreifen (zum Schutze der territorialen Integrität und der Aggressionsabwehr) und jus in bello – die Verpflichtung der Seiten im bewaffneten Konflikt, die Mittel und Methoden der Kriegsführung zum Schutze der Opfer zu begrenzen, also humanitäres Völkerrecht zu respektieren. Die Ukraine hatte und hat das Recht, Militär zu nutzen mit dem Ziel, ihre Souveränität und territoriale Integrität auf den Grundlagen der UNO-Charta zu schützen. Aber das gibt ihr weder das Recht, die Normen des humanitären Völkerrechts zu verletzen (den Separatisten auch nicht), noch rechtfertigt es die angeblichen Verletzungen dieser Normen.

Hier setzt meine juristische Position an. Ich unterstütze in vollem Maße die Maßnahmen der ukrainischen Führung und des Militärs zum Schutz der Unabhängigkeit und der territorialen Integrität des Landes. Gleichzeitig bestehe ich darauf, dass die Ukraine verpflichtet ist, humanitäres Völkerrecht zu respektieren, und allen Mitteilungen über Verletzungen von ukrainischer Seite von Normen des humanitären Völkerrechts und des Menschenrechts nachzugehen und alle Schuldigen an Kriegsverbrechen zur strafrechtlichen Verantwortung zu ziehen. Selbstverständlich gilt dies auch zu gleichem Maße für die andere Seite des Konflikts, für die Russische Föderation und ihre Militärangehörigen, genauso wie für die Führung der nichtanerkannten „Republiken“ und ihren Kriegsführenden.

1.1   Man kann das Handeln des Staats unterstützen und dennoch die Verbrechen der Staatsvertreter verurteilen. Das ist jedem Menschen klar, dazu braucht es nicht einmal juristisches Wissen, lediglich logisches Denkvermögen. Ich denke an die massiven, wahllosen Bombardierungen der Alliierten auf Wohnhäuser in deutschen Städten während des Zweiten Weltkriegs, wie auch die Atombombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki durch die Luftstreitkräfte der USA, wodurch tausende Menschen starben. Diese Angriffe waren eine grobe Verletzung der Normen des humanitären Völkerrechts und sind Kriegsverbrechen. Ich bedauere, dass die Schuldigen in diesen Verbrechen (die Ausführenden und die Organisatoren) nicht so bestraft wurden wie die nazistischen Kriegsverbrecher und habe Mitleid mit den Opfern dieser Verbrechen. Aber das untergräbt in keiner Weise meine Gewissheit darüber, dass die Alliierten das Recht hatten, Militär einzusetzen zum Schutz gegen die deutschen und japanischen Aggressionen und militärisch zu agieren, auch auf dem Territorium des Gegners.

Nur weil der Krieg gegen Nazideutschland von Seiten der UdSSR und ihrer Verbündeten rechtens war, bedeutete es noch lange nicht, dass die Zerstörung Dresdens oder die Vergewaltigungen von Deutschen genauso rechtens waren. Und umgekehrt: Die gesetzesverstoßende Zerstörung Dresdens und die Vergewaltigungen bedeuten noch lange nicht, dass die UdSSR, Großbritannien und die USA nicht das Recht hatten, gegen Nazideutschland Krieg zu führen. Und aus dem all hiergenannten darf noch lange nicht der Rückschluss gezogen werden, dass alle Seiten des Krieges gegen Hitler an den Vergewaltigungen oder an den barbarischen Bombardements beteiligt waren, denen die deutschen Städte ausgesetzt waren. Dies sind einfachste Grundlagen des Völkerrechts und es tut weh, muss man diese Menschen aufzählen, die sich MenschenRECHTler bezeichnen.

  1.       Jus ad bellum

Ich möchte auf die Definitionen von „Aggression“ eingehen, die im Artikel 3 der Resolution 3314 (XXIX) der Generalversammlung der UNO vom 14. Dezember 1974 und wortwörtlich im Artikel 8 bis des Römer Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs angeführt sind. In Anbetracht dessen, dass das Mitwirken von russischem Militär bei der Einnahme der Krim sogar von Putin nicht geleugnet wird, fällt die Annexion, beginnend mit der Einnahme des Obersten Rats der Autonomen Republik Krim durch „grüne Männchen“ und das Auftauchen von russischem Militär außerhalb ihres ursprünglichen Bestimmungsortes, zumindest unter die unter Punkt a) beschriebenen Handlungen zur Definition einer „Aggression“: „jede gewaltsame Annexion des Hoheitsgebietes eines anderen Staates oder eines Teiles desselben“ und Punkt e): „der Einsatz von Streitkräften eines Staates, die sich mit der Zustimmung eines anderen Staates in dessen Hoheitsgebiet befinden unter Verstoß gegen die in der entsprechenden Einwilligung oder Vereinbarung vorgesehenen Bedingungen.“

Genau ab diesem Moment hatte die Ukraine das volle Recht, das Militär zur Verteidigung gegen die Aggression gemäß Artikel 51 der UN-Charta einzusetzen. Dieses Recht nutzte die Ukraine damals im Hinblick auf den unerwarteten und hämischen Einfall von Seiten des „Verbündeten“ nicht, weil die Staatsorgane durch die Revolution in Kiew gelähmt und handlungsunfähig waren. Aber dies bedeutet nicht, dass der Ukraine auf irgendeine Weise dieses Recht abgesprochen wurde oder sie freiwillig darauf verzichtete.

2.1. Außerdem fanden damals schon auf der Krim sporadisch Kampfhandlungen statt, diese führten auch zum Tod eines ukrainischen Militärangehörigen und zur Blockade des Militärhafens. Diese Handlungen stimmen mit einem klassischen Präzedenzfall überein, der momentan den Normen des Völkerrechts entspricht (Internationales Strafgerichtstribunal für das ehemalige Jugoslawien, Entscheidung der Berufungskammer für die Zwischenberufung Tadićs vom 2. Oktober 1995) und sie müssen als Indikator für den Anfang des bewaffneten Konflikts gelten. Ich erinnere genauso daran, dass in Übereinstimmung mit eben dieser Definition der Konflikt solange als langandauernd bezeichnet werden kann, bis kein allgemeines Friedensabkommen erreicht wurde, unabhängig davon, ob Kämpfe stattfinden.

2.2.  Was die Ereignisse im Donbas angehen, so fingen sie genauso an wie auf der Krim – mit der Besetzung durch bewaffnete und maskierte Menschen (manchmal agierten sie hinter dem Rücken der Zivilbevölkerung) von Verwaltungsgebäuden und Milizabteilungen, dem Versuch Blockaden zu errichten, der Einnahme von Militäreinheiten und der Durchführung eines falschen Referendums. Das politische Programm der sogenannten „Donbaser Separatisten“ (deren Anführer uns hauptsächlich als russische Bürger vorgestellt wurden) war so einfach wie auch das Programm für die Krim: die Vereinigung mit Russland („Putin kommt und macht Ordnung“). Doch hier leistete die Ukraine zunächst nur schwachen, dann stärkeren bewaffneten Widerstand. Die internationale Staatengemeinschaft reagierte zunächst nur symbolisch, später aber wirkte sie spürbaren Druck auf das Putin-Regime aus und schwächte es damit.

Unabhängig davon, dass der Konflikt im Osten der Ukraine auch interne Gründe hatte und hat und unabhängig von der Frage, ob russische Staatsbürger offiziell daran teilgenommen haben (obwohl ich nur schwer glauben kann, dass russische Soldaten ihre Panzer mit in den Urlaub in die Ukraine nehmen), gibt es keine Zweifel daran, dass Russland den Separatisten in großem Maße Material beschafft und militärisch Hilfe leistet. In kleinerem Umfang wurde die Anwerbung und das Entsenden von Söldnern und Freiwilligen vom eigenen Territorium in die Konfliktzone begünstigt. Ich glaube (und hier stimmen mir die meisten Experten zu), ohne die Unterstützung von russischer Seite hätten sich die selbsternannten „Volksrepubliken“ nicht einmal ein paar Wochen gehalten.

Ich wiederhole: Dies bedeutet nicht, dass es in der Ukraine keine Voraussetzungen für einen Bürgerkrieg gab. (Diese gab es, die Tragödie in Odesa hat dies erneut unterstrichen). Russland jedoch, anstelle nach den Normen zu handeln, die im Abkommen über die Freundschaft, Zusammenarbeit und Partnerschaft zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine vom 30. Mai 1997 festgehalten wurden, nutzte die Wirren im Nachbarland aus, um auf hinterhältige Art und Weise einen Teil des Territorium einzunehmen und ihn dann nicht auszulöschen, sondern den Konfliktherd kräftig zu schüren, indem die Befürworter der russischen Annexion unterstützt wurden.

2.3.  Auf diese Weise sind die Handlungen Russlands im Donbas die Fortführung des bewaffneten Konflikts, der mit der Annexion der Krim begann. Diese Handlungen haben dasselbe Ziel, nämlich die Annexion oder die Schaffung von Separatisten kontrollierten Enklaven, da einen Annexion aufgrund der verschärften Sanktionen nicht zweckmäßig ist. Russlands Handeln stellt auch in kleinerem Maße eine Verletzung folgender Punkte dar: des Punktes g), Artikel 3 der Resolution 3314 (XXIX) der Generalversammlung und Artikel 8 bis der Römer Statuten („das Entsenden bewaffneter Banden, Gruppen, Freischärler oder Söldner durch einen Staat oder in seinem Namen, wenn diese mit Waffengewalt Handlungen gegen einen anderen Staat ausführen”).

Die Verantwortung Russlands kann in kleinerem Maße am Grundprinzip der „teilweisen Abhängigkeit“ aufgezeigt werden, das vom Internationalen Gerichtshof der UNO im Fall „Nicaragua gegen USA“ (Urteil vom 27. Juni 1986) gelegt wurde. In dieser richterlichen Entscheidung erklärte das Gericht, dass es keine eindeutigen Beweise dafür gab, dass die USA ihre Kontrolle soweit ausgebreitet hatten, dass dies als Grund für die Bezeichnung der nicaraguanischen Contras als Kräfte, die im Namen der US-Regierung agierten. Der Gerichtshof jedoch kam zu dem Schluss, dass es eine „teilweise Abhängigkeit“ der Contras von den USA gab aufgrund der Tatsache, dass die „Anführer von den USA ausgewählt wurden“, und auf der Grundlage weiterer Faktoren, zu denen auch die Organisation, Ausbildung und Ausrüstung der Truppen zählt, wie auch die Planung der Operationen, die Wahl der Ziele und die operationelle Unterstützung (Paragraf 75-125 der genannten richterlichen Entscheidung). Auf dieser Grundlage beschloss das Gericht, dass die „Vereinigten Staaten von Amerika, dadurch dass sie die Contras schulten, ausrüsteten, finanzierten, versorgten oder auf andere Art und Weise unterstützen und militärische und paramilitärische Handlungen in Nicaragua und gegen Nicaragua unterstützten, sie gegen die Republik Nicaragua handelten und gegen ihre Verpflichtungen im Völkergewohnheitsrecht, sich nicht in die Angelegenheiten eines anderen Staates einzumischen, verstießen.“ (Punkt 3 des Urteils).

Ich möchte darauf hinweisen, dass in diesem Fall das Gericht den bewaffneten Konflikt zwischen der Regierung Nicaraguas und der Contras nicht als internationalen Konflikt bezeichnete. Trotzdem zog das Gericht die USA für die gesetzeswidrige Einmischung zur Verantwortung. Dementsprechend handelt das Internationale Komitee des Roten Kreuz, das den Konflikt im Donbas als interen Konflikt bezeichnet, nach jus in bello. Wie mir bekannt ist, hat es sein Handeln auch nur in einer einzigen Pressemitteilung vom 23. Juli 2014 begründet. Diese Handlungsweise ändert nichts daran, dass angenommen wird, Russland trage nach jus ad bellum Verantwortung.

2.4. Was die „unentdeckten“ Unterteilungen des russischen Militärs durch OSZE-Beobachter betrifft, so beobachten letztere gerade nur zwei Kontrollpunkte: „Donezk“ und „Gukowo“. Die Erhöhung der Anzahl der OSZE-Beobachter wird von Russland blockiert. Dadurch haben die Beobachter nur die Möglichkeit einen Kilometer der russisch-ukrainischen Grenze zu überwachen, deren gesamtes Gebiet sich über mehrere hunderte Kilometer entlangzieht. Was auf welche Weise, in welchem Ausmaß und in welche Richtung über die Grenze gelangt, kann von keinem internationalen Beobachter kontrolliert werden.

Die Tatsache der unentdeckten Unterteilungen der russischen Armee, die meine Kollegin nannte, werde ich nicht kommentieren, da sie (wie auch der Autor dieser Zeilen) nicht Spion von Beruf ist, auch kein Militäranalyst. Bedeutend mehr Vertrauen rufen bei mir die Daten der Spione der Nato hervor (inklusive der Sattelitenbilder), auf Grundlage derer in Europa die schwerwiegende Entscheidung getroffen wurde, die Sanktionen zu verschärfen, wie auch die Daten von zahlreichen Journalisten (vor allem auch der „Nowaja Gasjeta“), der Zeugenaussagen des Komitees der Soldatenmütter und die des Pskower Abgeordneten Lew Schlosberg, der für seine Aufdeckungen fast mit dem Leben bezahlt hätte.

Ich glaube, dass, wenn es nicht so schwerwiegende Beweise für die Präsenz russischen Militärs im Donbas gegeben hätte, die EU-Länder, die von Anfang an gegen harte und zweischneidige, wirtschaftliche Maßnahmen waren und einige Jahre die Augen vor den Ausrutschern des Putin-Regimes zudrückten, sich eher nicht für so einen beispiellosen Schritt entschlossen hätten wie die Sanktionen auf ganze Wirtschaftssektoren. Deshalb glaube ich, dass die Verantwortung Russlands und seiner militärisch und politischen Führung für die Handlungen in der „Luhansker Volksrepublik“ und der „Donezker Volksrepublik“ im Donbas viel wichtiger ist als die „teilweise Unabhängigkeit.“ Die Verantwortung kann gemäß dem Prinzip der „effektiven Kontrolle“ (im selben richterlichen Entscheid des Internationalen Gerichtshofs und darauf angewandt vom Internationalen Strafgerichtstribunal für das ehemalige Jugoslawien, um den Konflikt in Bosnien und Herzegowina zu definieren) als Verantwortung für das Handeln seiner „Agenten“ angesehen werden. Es geht hier nicht um das Recht sondern um Tatsachen, und hier bin ich mutig und greife auf die Schlussfolgerungen eines möglichen Strafprozesses vor. Ich hoffe, dass früher oder später auch der Internationale Gerichtshof und der Internationale Strafgerichtshof eine Einschätzung zur Sachlage geben werden.

  1.       Jus in bello

Zweifelsfrei verletzten und werden auch in Zukunft alle Seiten des bewaffneten Konflikts in der Ukraine (die ukrainischen Streitkräfte und die bewaffneten Einheiten der nicht anerkannten „Volksrepubliken“, die wahrscheinlich von den Streitkräften der Russischen Föderation unterstützt werden) das humanitäre Völkerrecht verletzen. Diese Völkerrechtsverletzungen haben bereits die Stufe der Kriegsverbrechen erreicht: außergerichtliche Strafen an Personen, die in Verbindung mit dem militärischen Konflikt verhaftet wurden, Folter und Gewaltanwendung gegen diese wie auch willkürliche Angriffe, die zum Tod oder zu Verletzungen von Zivilpersonen führen oder zivile Objekte beschädigen oder zerstören. Ich unterstreiche, die Berichte bedeutender Menschenrechtsorganisationen, die in der Region tätig sind (vor allem Human Rights Watch und Amnesty International) nennen alle Konfliktparteien für diese Verbrechen verantwortlich.

Bekannt wurden Nachrichten über das gewaltsame Verschwinden, Folter und Mord an Krimtataren in Verbindung mit maßnahmen von russischem Militär und prorussischen Formierungen auf der Krim, Geiselnahmen, Folter und Morde am Abgeordneten Rybak und anderen Personen im Donbas durch prorussische Streitkräfte, außergerichtliche Strafen an vier Männern durch von Kiew kontrollierten Streitkräfte in der Nähe des Schachts „Kommunar,“ der Luftangriff durch die Luftstreitkräfte der Ukraine über der Luhansker Gebietsverwaltung, der zum Tod und zu Verletzungen von Zivilpersonen führte, der Raketenangriff von Separatisten oder der russischen Luftabwehr gegen das Passagierflugzeug, der zum Tod von Zivilpersonen führte und eine ganze Reihe wahlloser Angriffe, für die beide Konfliktparteien sich gegenseitig verantwortlich machen (und für die augenscheinlich beide verantwortlich sind), die Anwendung von Streumunition in dichtbevölkerten Stadtbezirken durch die ukrainischen Streitkräfte, vor allem in Donezk, wie auch die Nachricht über Folter und Gewalt an Gefangenen, was von beiden Konfliktparteien angewendet wird.

3.1. Diese und weitere Verbrechen sind nicht zu rechtfertigen; die Personen, die sie begangen haben, denen sie befohlen wurden oder die aufgehetzt wurden, sie zu begehen, müssen gefunden und vor Gericht gebracht werden. Jeglicher Versuch, solche Verbrechen zu rationalisieren, sind absolut zynisch. So zynisch wie auch der Versuch der einen Seite, die Verbrechen totzuschweigen, und der anderen Seite, die Verbrechen für politische Ziele auszunutzen.

Wenn mir gesagt wird, dass durch die Schüsse der ukrainischen Streitkräfte Kinder des Donbas sterben und gleichzeitig angedeutet oder offen gesagt wird, dass man für die Beendigung des Sterbens den Donbas unterschiedlichen Besows und Strelkows geben oder ihn gleich mit Russland vereinen soll wie zuvor schon die Krim, dann geht die politische PR, die nichts mit Moral oder Recht gemein hat, auf Kosten der Kinder. Solche Anspielungen sind unmoralisch, da sie eine Konfliktpartei absichtlich oder unabsichtlich schuldig sprechen und die andere Seite von Verbrechen reinwaschen. Solche Anspielungen widersprechen der Realität, da sie Fragen des jus in bello mit Mitteln des jus ad bellum lösen wollen (die Annexion eines Territoriums eines souveränen Staats damit zu rechtfertigen, dass dieser Staat die Normen des humanitären Völkerrechts verletzt). Das ist ungefähr dasselbe, wie wenn man Kopfschmerzen mit der Guillotine zu lösen versucht. Nach dieser „anthrophilen“ Logik hätten die Alliierten auf Hitlers Aggression hin sofort kapitulieren müssen – um weitere Kriegsopfer zu vermeiden (wenn nicht sofort, dann zumindest nach dem ersten Beschuss von Seiten Berlins).

3.2. Auf welche Weise können die Vertreter beider Konfliktparteien für Kriegsverbrechen zur Verantwortung gezogen werden und wie kann den Verbrechen ein Ende gesetzt werden? Sicherlich nicht, indem wir den Donbas Putin und seinen Wölfen überlassen. Ich glaube, dass die internationale Staatengemeinschaft in Bezug auf die Ukraine jetzt die einzigartige Möglichkeit hat, auf der einen Seite Druck auszuüben mit dem Ziel die Verbrechen effektiv aufzuklären und auf der anderen Seite bei der Aufklärung mitzuhelfen. Das zur Verfügung stellen unterschiedlicher Arten von Hilfe kann Bedingung für die Durchführung einer solchen Aufklärung sein. Diese Hilfe ist momentan lebenswichtig für die Ukraine als Staat. Und die Mithilfe kann von Seiten Ermittlungsbehörden der europäischen Staaten geleistet werden wie auch von Experten des Internationalen Strafgerichtshofs.

Schwieriger ist es mit den Separatisten und mit Russland selbst, wo die Verdächtigten einen herzlichen Empfang und sicheres Asyl bekommen. Man muss zugeben, dass die internationale Staatengemeinschaft keine effektiven Instrumente zur Druckausübung auf diese Konfliktpartei hat, die Gründe sind bekannt. Aber die Situation kann sich in Zukunft ändern. Man könnte meinen, dass es im Interesse der Ukraine ist, die Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs für Straftaten anzuerkennen, die auf ihrem Hoheitsgebiet während des derzeitigen bewaffneten Konflikts (beginnend mit der Krim-Annexion) begangen wurden gemäß Artikel 12 (3) des Römischen Statuts (einschließlich der späteren Ergänzungen zum Statut). Dies könnte der Ukraine eine unabhängige und unvoreingenommene Gerichtsbarkeit ermöglichen (vor allem bei Verbrechen während der Aggression gemäß Artikel 8 bis). Ich denke, darüber sollte man mit russischen und ukrainischen Menschenrechtsverteidigern und europäischen Partnern reden. Und natürlich ist es die wichtigste Aufgabe, eine gemeinsame Datenbank aufzustellen, die der Dokumentation der während des Konflikts begangenen Verbrechen dient. Das ist die Aufgabe unabhängiger und unvoreingenommener Organisationen, die mit keiner Konfliktpartei in Verbindung stehen.

  1.       Gerechter Frieden

Noch eine verantwortungslose Meinung, die einige unserer Menschenrechtler-Community vertreten: Frieden um jeden Preis. Für die Befürworter dieser nicht nachvollziehbaren Doktrin gilt, dass es im Krieg keine Unschuldigen und Schuldigen gibt: „Alle Politiker und Krieger gehören in eine Ecke“ – alle sie sind auf derselben Weise für das Blutvergießen verantwortlich. Deshalb ist das einzige, was von ihnen gefordert wird, sich langsam auf den Frieden zu einigen. Unter welchen Bedingungen diese „dreckigen Politiker“ eine Einigung finden, darüber machen sich die Pazifisten keine Gedanken, sie haben dazu auch keine Vorschläge: Es sind nicht ihre Sorgen, Politiker haben – wie auch Pferde – größere Köpfe, sollen doch sie denken!

Aber ein ungerechter Frieden, der die Rechte und gesetzlichen Interessen der Bevölkerung und der Staaten schmälert, bringt neue Gewalt mit sich. Die Legitimierung der Krim und die Schaffung prorussischer Marionetten-Enklaven auf dem Territorium des ukrainischen Festlands in der Art von Transnistrien oder Südossetien (es sieht so aus, als sei dies das Mindeste von Putins Politikprogramm) ist als Bedingung für Frieden nicht annehmbar. Ein gerechter Frieden auf ukrainischem Territorium kann nur erreicht werden, wenn die territoriale Integrität und staatliche Souveränität der Ukraine respektiert wird. Alle Hebel für eine solche friedliche Konfliktbeilegung sind fest in russischen Händen. Das Ende der Unterstützung der selbsternannten „Republiken“, eine effektive Kontrolle über die Grenzen mit dem Ziel die Lieferung von Menschen, Waffen und Geld zu stoppen, die Rückgabe der annektierten Krim an die Ukraine  – das ist der einzige Weg, um den gerechten Frieden wiederherzustellen und um langfristig die nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen unseren Staaten wiederaufzubauen.

Solange Russland nicht diese Schritte unternimmt, muss die internationale Staatengemeinschaft nicht nur ihren Druck auf das Regime Putins weiterhin aufrechterhalten sondern ihn verstärken. Im Gegensatz stellt jegliche faktische Anerkennung oder schweigendes Einverständnis der territorialen Annexion nicht nur den Frieden auf dem europäischen Kontinent in Gefahr, sondern untergräbt auch das globale Sicherheitssystem, das nach dem Zweiten Weltkrieg entstand. Die Folgen einer solchen Instabilität des Friedens bekäme man noch lange zu spüren.

  1.       Menschenrechtsarbeit und humanitäre Tätigkeit

Im Streit, den ich am Anfang beschrieb, wurde mir vorgeworfen: „Vergiss nicht: Die Rolle des Menschenrechtlers ist es, Menschen zu retten!“ Ich glaube aber, dass meine verehrte Opponentin kein klares Verständnis darüber hat, was Menschenrechtsarbeit bedeutet und was sie von humanitären Missionen unterscheidet. Den Schutz der Menschenrechte und humanitärer Einsatz sind unterschiedliche Tätigkeitsfelder und diese muss man unterscheiden können. Als am 2. September 2004 der ehemalige Präsident Inguschetiens Ruslan Auschew in die Schule nach Beslan kam und mit den Terroristen vereinbarte, dass sie die Kleinkinder und ihre Mütter freiließen, verteidigte er nicht die Menschenrechte, sondern hat Menschenleben gerettet: Das war ein klassischer humanitärer Einsatz. Als am 24./25. Oktober Anna Politkowskaja in das besetzte Theater Dubrowka Trinkwasser brachte, agierte sie nicht als Menschenrechtlerin oder Journalistin. Im Russischen gibt es für einen solchen Einsatz eine zutreffende Bezeichnung, die jetzt allerdings nur noch im religiösen Bereich genutzt wird: „Fürsprache.“ Die Kirche spricht sich vor der weltlichen Regierung für gewisse Menschen aus, z.B. bittet sie um Begnadigung für zum Tode verurteilten Menschen, um Freilassung von Gefangenen oder um Strafmilderung. Das ist ein heiliger Auftrag, doch er darf auf keinen Fall mit dem Schutz der Menschenrechte verwechselt werden.

An oberster Stelle der Menschenrechtsarbeit steht die Einhaltung der Prinzipen der Rechtsstaatlichkeit als unbedingtes Interesse der Gesellschaft: pereat mundus et fiat justitia („Selbst wenn die Welt untergehe, so herrsche doch die Gerechtigkeit!“) Der bedeutendste Wert des humanitären Einsatzes ist das menschliche Leben als solches, unabhängig von jeglichen rechtlichen Aspekten. Unter den Bedingungen eines demokratischen Rechtsstaats kann Menschenrechts- und humanitäre Arbeit kombiniert werden, ineinandergreifen oder parallel existieren. Beide Tätigkeiten sind nicht konkurrierend. Im Gegenteil: hominum causa omne ius constitutum est („Alles Recht ist um der Menschen willen geschaffen.“), woraus geschlossen werden kann, dass die Einhaltung des Gesetzes den Schutz des Lebens und des Wohlergehens eines jeden Gliedes der Gesellschaft mit sich zieht.

Unter Bedingungen von systematischen Menschenrechtsverletzungen unter autoritären Regimen und während bewaffneter Konflikte ist dies bedeutend schwieriger: Der Schutz der Menschenrechte kann sich als fataler Widerspruch zu den Interessen zum Schutz der Opfer dieser Verletzungen herausstellen. Hier entsteht eine Situation, die Isaiah Berlin als „Konflikt der positiven Werte“ bezeichnet. Unter Bedingungen eines solchen Konflikts muss klar unterschieden werden, welche Art Tätigkeit Sie gerade ausführen wollen.

Folgende Beispiele aus der praktischen Arbeit der größten internationalen NGOs veranschaulichen dies: „Amnesty International“ wird nicht einen Richter bestechen, um einen Menschen zu befreien, der als „gewaltloser politischer Gefangener“ im Gefängnis ist. Eine solche Entscheidung würde den Prinzipien, für die sich Amnesty International einsetzt, entgegenlaufen, weil die Organisation als Hüterin der Rechtsstaatlichkeit gilt. Sie schützt das Recht und nur mithilfe des Rechts – des Rechts von Einzelpersonen, die Opfer des Unrechts wurden. Schutz von Opfern mithilfe von Maßnahmen, die nicht dem Recht entsprechen, ist für Amnesty nicht hinnehmbar.

Aber die Praxis der größten Wohltätigkeitsorganisation, dem Roten Kreuz, sieht ganz anders aus. Ihre Mission ist es, das Leben von Kriegsopfern zu retten. Und wenn dafür, damit Frauen und Kinder aus der Konfliktzone gebracht werden können, der oberste Offizier bezahlt werden muss, wird das gemacht. Eines der Prinzipien des Internationalen Komitees des Roten Kreuz (IKRK) ist die Vertraulichkeit, die den Zugang zu Opfern erlaubt mit dem Ziel ihr Leben und persönliche Integrität zu schützen und einen effektiven Dialog mit der Regierung zu führen – auch wenn diese Machthaber zweifellos Kriegsverbrecher sind und die Forderungen, die sie als Bedingung zur Rettung der Menschen anführen, nicht mit dem Verständnis des Rechts zu vereinbaren sind. Ein Beispiel dafür ist die Zusammenarbeit des Roten Kreuz mit Nazi-Deutschland, um den Kriegsgefangenen zu helfen.

Internationales Präjudizienrecht unterstreicht, dass das IKRK das absolute Recht auf Verschwiegenheit hat. Wie der Internationales Straftribunal für das ehemalige Jugoslawien im Fall Simić entschieden hat (richterliche Entscheidung des Gerichts vom 27. Juni 1999 bezüglich der Zeugeneinvernahme), müssen die Mitarbeiter des IKRK nicht vor Gericht als Zeugen von Ereignissen auftreten, denen sie während ihrer Arbeit beiwohnten.

Die Trennung zwischen Menschenrechtsarbeit und humanitärer Hilfe ist unabdingbar für all jene, die jetzt in der Konfliktzone in der Ukraine arbeiten. Ein Menschenrechtler kann und darf, wenn er sich mit bestimmten Situationen konkreter Rechtsverletzungen befasst, sich nicht von den Antworten auf globale Rechtsfragen entfernen, vor allem nicht von jenen auf die Fragen des jus ad bellum über die Aggression und ihre Opfer. Aber wenn Sie den Gefangenenaustausch befürworten, ihre Haftbedingungen untersuchen, Arbeit mit Flüchtlingen organisieren oder auf andere Art und Weise „Menschenleben retten“ und Sie verstehen, dass Aussagen zu Rechtsfragen Ihre Möglichkeiten untergraben und Ihre Mission oder die persönliche Sicherheit Ihrer Mitarbeiter in Gefahr bringen könnte, sollte auf solche Aussagen verzichtet, öffentlich darüber informiert und im Voraus entschieden werden, dass Ihre Mission humanitär ist. Das ist human, rechtens und ehrlich. Zumindest wesentlich ehrlicher als die Behauptung anzuheizen, eine Konfliktpartei habe Rechte verletzt, die Verletzungen der anderen Partei zu verschweigen und alle zu beschuldigen, die am Prinzip der Unverrückbarkeit der Grenzen und an den Verpflichtungen internationaler Abkommen festhalten, während das Blut von Kleinkindern im Donbas vergossen wird. Blut, das genau die gleiche Farbe hat, wie das der jüngsten Passagiere der abgeschossenen Boeing.

  1.       Resümee

Meiner Meinung nach ist die Ukraine Opfer der kriegerischen Aggression seitens Russlands und der von Russland unterstützten Formierungen und hat dadurch das Recht auf Selbstschutz mit der Anwendung von Waffen, gemäß Artikel 51 der UNO-Charta.

Während des bewaffneten Konflikts verletzen alle Konfliktparteien das humanitäre Völkerrecht, diese Verletzungen befinden sich bereits auf der Ebene der Kriegsverbrechen. Solche Verbrechen sind nicht zu rechtfertigen. Die Schuldigen müssen gefunden werden und vor Gericht gestellt werden.

Fragen über die Rechtmäßigkeit der kriegerischen Handlungen als solche von beiden Seiten und die Fragen über die Einhaltung des humanitären Völkerrechts sind unterschiedliche Rechtsfragen und diese müssen unabhängig voneinander betrachtet werden.

Die internationale Staatengemeinschaft ist verpflichtet, der Ukraine Hilfe zu leisten angesichts der Aggression, auf den Aggressor Druck auszuüben mit dem Ziel, dass dieser die Aggression beendet, auf alle Seiten, einschließlich der Ukraine, Druck auszuüben wie auch rechtliche und institutionelle Hilfe zu leisten mit dem Ziel der effektiven Aufarbeitung der Verbrechen und die Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen.

Für die Realisierung dieser Ziele können Instrumente des Internationalen Strafgerichtshofs auch von der Ukraine selbst eingesetzt werden. Ein gerechter und andauernder Frieden in der Ukraine kann nur nach Ende der Aggression und der Beseitigung ihrer Folgen erreicht werden, einschließlich der Annexion der Krim von der Russischen Föderation. Die Personen, die humanitäre Missionen in der Konfliktzone ausführen, können (und sind in bestimmten Situationen verpflichtet) sich einer Bewertung über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von den Konfliktparteien im Interesse der Opfer enthalten.

Autor: Stanislaw Dmitrijewskij

Quelle: Grani.ru

Übersetzung: Christina Riek für Euromaidan Press auf Deutsch

 

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