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Putins Waldaj-Rede: Eine neue außenpolitische Doktrin

von Tatjana Stanowaja, Slon.ru

Die Bedeutung des heutigen Auftritts Wladimir Putins [vor dem Waldaj-Club, einem hochrangigen Expertentreffen zum Thema russische Innen- und Außenpolitik, Anm. d. Übers.] lässt sich problemlos mit seiner Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Jahre 2007 vergleichen. Inhaltlich ging es um die aktuelle Lage der Weltpolitik – außerdem erging sich der Präsident in den heftigsten antiamerikanischen Äußerungen seiner nunmehr 14 Jahre währenden Herrschaft. Eines muss man ihm jedoch zugutehalten: Er hat sein Versprechen gehalten und kein Blatt vor den Mund genommen. Seine Worte geben die Sichtweise des Kremls auf die derzeitige Lage der Welt preis.

Wenden wir uns einigen Schlüsselmomenten dieser Rede zu, die ohne Frage in die Geschichte eingehen wird.

Erstens – der neue Antiamerikanismus. Die fundamental gewandelte Haltung Putins gegenüber dem politischen Treiben Washingtons ist einer der grundlegenden Unterschiede gegenüber seiner Münchener Rede. Zwar fand der russische Staatspräsident bereits 2007 kritische Worte gegenüber den USA, doch diese richteten sich eher auf die Notwendigkeit, den Kalten Krieg zu überwinden und gemeinsam eine globale Sicherheitsarchitektur zu errichten. Trotz des demonstrativ zur Schau gestellten Unmuts Russlands über seinen Ausschluss von politischen Entscheidungen mit Weltrang – wie etwa die Missachtung der russischen Haltung durch den Westen in lokalen Konflikten (Jugoslawien) und die Nichtanerkennung des postsowjetischen Raumes als „traditioneller Einflusszone Russlands“ – war Putin bereit, auf den Moment zu warten, in dem er wieder zu einer vollwertigen Partnerschaft mit den USA und Europa zurückkehren kann. Von Partnerschaft mit den USA ist am Freitag in Sotschi keine Rede mehr – dies gilt solange, wie Washington seinen aktuellen politischen Kurs beibehält.

Zweitens – eine revisionistische Haltung gegenüber der ursprünglichen Vision von Putins Weltordnung, die auf zwei Grundannahmen basierte. Damit ist zum einen die Multipolarität (und gleichzeitig Unmöglichkeit der Unipolarität) der heutigen Welt gemeint, zum anderen die Notwendigkeit der Einhaltung bestehender Regeln der Weltpolitik. Diese Vision hat sich grundlegend gewandelt: In den Augen Putins ist das Unmögliche eingetroffen – eine unipolare Welt, die keinen Spielregeln mehr folgt. Dieser Entwicklung folgte ein mehr schlecht als recht verwaltetes Chaos auf dem Fuße. Die Grenzen dessen, was als zulässige Politik angesehen wird, zieht Putin nun nach eigenem Gutdünken. Was 2007 noch unmöglich schien, ist heute, sieben Jahre später, Realität geworden.

Drittens – Putin ignoriert die Sanktionspolitik als beständigen Ausdruck neuer Gegebenheiten vollständig. Und nicht nur das. Mit demiurgischem Geschick schwächt er die Haltung Westeuropas gegenüber der westlichen Sanktionspolitik durch eine simple „teile und herrsche“-Politik als Antwort auf die einseitigen Maßnahmen der USA. Dies soll Russland zumindest einen kleinen Spielraum gegenüber dem Westen ermöglichen – und zeigt, dass der Kreml auf die unausweichliche Ernüchterung in Berlin und Paris setzt, sobald die derzeitige Hitze aus der Ukraine-Krise gewichen ist. Diese Politik ist jedoch nicht frei von Risiken: Es sieht ganz danach aus, dass die Elite im Westen fest entschlossen ist, nicht zum Status quo ante zurückzukehren, solange Wladimir Putin das Amt des russischen Staatspräsidenten bekleidet.

An einigen Stellen weist die neue Putin-Doktrin jedoch Ungereimtheiten auf. Schon das erste Problem betrifft die Ukraine: Die Politik Russland gegenüber dem Land will sich partout nicht in die von Putin beschriebene Weltsicht fügen: Bei der Forderung nach klaren Kriterien für die einseitige Gewaltanwendung eines Staates gegenüber einem anderen, bei der Bilanz in Hinblick auf den Schutz von Menschenrechten und nationaler Souveränität und der darauf aufbauenden Kritik an dem „gesetzlosen“ Verhalten der USA – überall scheint Putin zu vergessen, dass die russische Außenpolitik gegenüber der Ukraine weitgehend dem unilateralen Verhaltensmuster Washingtons folgt, welches der russische Präsident im selben Atemzug geißelt. Wenn sich die USA das Recht herausnehmen, die Weltpolitik ins Chaos zu stürzen, dann gilt selbiges Recht für Russland: Halten sich die USA nicht an die Spielregeln, hält sich Russland ebenfalls nicht daran. Putin spricht es zwar nicht explizit aus, doch bei seiner Rede im vergangenen Jahr tritt dieser Widerspruch noch deutlicher hervor, mit dem wir beispielsweise die Annexion der Krim mit der Anerkennung des Kosovo legitimieren – wobei Russland selbst den Kosovo freilich niemals anerkannt hat. Putin ignoriert auch den Umstand, dass die USA mit der westlichen Staatengemeinschaft dieselben Werte teilen und daher einen Legitimitätsvorsprung besitzen. Russland hingegen setzt auf Konservatismus, Nationalismus und ein traditionelles Wertefundament – und positioniert sich diametral zum „dekadenten Westen“. Damit entfernt es sich immer weiter von der „gemeinsamen Familie Europas“, von der 2007 noch die Rede war.

Das zweite Problem: Was hat Putin der Weltgemeinschaft im Gegenzug anzubieten? Das  Konzept der Interdependenz kommt geradewegs aus der Mottenkiste und wurde schon während Putins zweiter Amtszeit proklamiert. Die Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok, mit freiem Kapitalverkehr und einem gemeinsamen Kampf gegen Bedrohungen anstelle der gegeneinander gerichteten Parallelität unabhängiger Offensiv- und Defensivsysteme. Dieses Konzept wurde schließlich vom Westen abgelehnt, einschließlich der Länder Westeuropas, unter denen in dieser Zeit gegenseitiges Einvernehmen herrschte. Im Angesicht der Ukraine-Krise ist das Konzept der Interdependenz zu einer kompletten Utopie verkümmert.

Schließlich ein drittes Problem von großer Tragweite: Mit welchen Staaten könnte Russland eine neue Weltordnung etablieren? Hat Russland überhaupt Verbündete? Wer ist bereit, sich mit dem russischen Staatschef an einen Verhandlungstisch zu setzen und die Themen Krim und Donbas fraglos herunterzuschlucken? Putin fordert neue Spielregeln ein, die die Toleranzgrenze gegenüber unilateralen Handeln neu definieren. Es mangelt Russland jedoch an respektablen Verbündeten in der Welt, die eine Koalition schmieden und neue Regeln für die Weltgemeinschaft aufstellen könnten. Ohne die USA ist dieses Unterfangen zum Scheitern verurteilt.

Es scheint, als würde Putin an Gedächtnisschwund leiden. Seine letzte und einzige Hoffnung bleibt Europa, und aus diesem Grund ist seine Rede in erster Linie an Europa gerichtet. In dieser Hinsicht ist der Kommentar des russischen Präsidenten zur Absage des „Petersburger Dialogs“ durch Deutschland sehr aufschlussreich: Weder war er verärgert, noch brachte er sein Bedauern zum Ausdruck, stattdessen verteidigte Putin die Entscheidung der deutschen Partner mit der Begründung, dass Deutschland dem gemeinsamen Dialog nicht schaden wolle. Während also Deutschland den Dialog mit Russland einstellt, ohne sich zur Legitimität seines eigenen Handelns zu bekennen, ist es an Russland, das Handeln der Berliner Republik zu rechtfertigen, fest davon ausgehend, dass die USA hinter den Kulissen Druck auf die Bundeskanzlerin ausüben. Es scheint, als ob Putin wild entschlossen ist, die Augen vor der Tatsache zu verschließen, dass sowohl Deutschland als auch Frankreich sich längst gegen einen Kuhhandel mit Russland in der Ukraine-Frage entschieden haben.

Was bedeutet das für die politische Praxis? Die Rede Putins zeigt, dass die Beziehungen der Russischen Föderation zum Westen auf eine langjährige Krise zusteuern, in welcher es dem Land an europäischen Partnern mangeln wird und die USA zum offiziellen Feind deklariert werden. Zur geopolitischen Einsamkeit Russlands kommt ein ineffektives Staats- und Wirtschaftsmodell, welches das Land sehr anfällig für externe Konjunkturschwankungen macht.

Es scheint also, als ob die USA Russland aufgrund seiner derzeitigen Schwäche – und nicht aufgrund einer Position der Stärke – als Herausforderung begreifen. Washington wird sich dieser Herausforderung mit Sicherheit annehmen und mit einer Abschreckungspolitik darauf antworten; einer Politik, die zunehmend auch anti-putinistische Merkmale aufweisen wird.  Wladimir Putin erklärte, dass das Ende des Kalten Krieges keine Befriedung der Welt mit sich gebracht hätte. Bedauerlich für Russland, dass die USA erheblich mehr Mittel haben, um Russland zu schwächen und seine Anfälligkeit gegenüber lokalen Konflikten zu erhöhen. Russland verfügt nicht über die Kapazitäten, um die Verluste nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder aufzuholen. Die Hoffnung auf Rettung beruht derzeit einzig auf der objektiven Schwäche der USA, die auf Unterstützung bei Bekämpfung von Terrorismus und religiösem Fundamentalismus angewiesen sind – und darauf, dass es in Russland zu einem Austausch der Eliten kommt.

Autorin: Tatjana Stanowaja

Quelle: Slon.ru

Übersetzung: Übersetzerteam Euromaidan Press auf Deutsch

Titelbild: Wladimir Putin auf der letzten Plenumssitzung des 11. internationalen Diskussionsklubs “Waldaj”. Foto: Michail Klimentew / TASS.

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