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Wer benutzt Streumunition in der Ukraine?

von Halya Coynash, Charkiwer Menschenrechtsgruppe

Eine schnelle Google-Suche ergibt eine Vielzahl von Berichten, die die Behauptung von Human Rights Watch über den weit verbreiteten Einsatz von Streubomben durch die ukrainische Regierung zitieren. Eine deutlich geringere Anzahl von Berichten wird den OSZE-Sprecher zitieren, der bestreitet, dass Beweise für eine solche Nutzung vorliegen.

Von den Zahlen her und chronologisch reicht das so für Skandal-Reporter. Dementis werden in der Regel als obligatorische Formsache angesehen, und sie werden die Öffentlichkeit nur selten zu überzeugen vermögen. In diesem Fall jedoch hat die OSZE rund 100 Experten permanent im Osten der Ukraine vor Ort.

Bloomberg zitiert Michael Bociurkiw, den OSZE-Sprecher, mit den Worten: “Wir haben bislang keine Hinweise auf Splitterbomben gesehen. Wir haben rund 100 OSZE-Beobachter, sie decken ein sehr breites Gebiet ab. Wenn wir etwas sehen, werden wir darüber berichten, aber alle unsere Berichterstattung beruht auf geprüften Fakten.” Das offenbar direkt geführte Gespräch von Bociurkiw mit der Deutschen Welle ist nur in Details unterschiedlich: “Wir haben rund 90 Beobachter im Osten der Ukraine. Wenn wir etwas Ähnliches gesehen hätten, würden wir es aufgenommen haben, aber bisher hat es so etwas nicht gegeben. Alles, was wir über Munition oder Granaten zu sagen haben, steht in unseren täglichen Berichten. Bis jetzt gab es in unseren Berichten nichts dergleichen.”

Nach “einer einwöchigen Untersuchung im Osten der Ukraine”, veröffentlichte Human Rights Watch einen Bericht mit dem Titel “Ukraine: Der weit verbreitete Einsatz von Streumunition”. Dieser beginnt mit der Feststellung: “Die Streitkräfte der ukrainischen Regierung benutzten Anfang Oktober 2014 Streumunition in bewohnten Gebieten in der Stadt Donezk.” “Während es uns nicht möglich war, abschließend zu bestimmen, wer die Verantwortung für viele der Angriffe hatte, weisen die Beweise auf ukrainische Regierungstruppen als verantwortlich für mehrere Angriffe mit Streumunition auf Donezk hin. Ein Mitarbeiter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) wurde am 2. Oktober bei einem Angriff auf Donezk getötet, bei dem Streumunition-Raketen benutzt wurden.”

Sollten wir annehmen, dass die 90-100 OSZE-Beobachter irgendwie weniger aufmerksam oder vorsichtiger in ihren Schlussfolgerungen sind? Letzteres würde nicht erklären, warum der OSZE-Sprecher am Mittwoch nicht einmal den Anschein eines ähnlichen Verdachts erhob, während die Arbeit der Mission bisher keinen Anlass für Zweifel an ihrer Kompetenz gegeben hat.

HRW ist sehr bekannt, und dementsprechend bekam ihr Bericht ein sehr großes Ausmaß an Berichterstattung, darunter Artikel in der New York Times und zahlreichen anderen Medien. Unsere nachfolgende Darstellung basiert weitgehend auf einem kritischen Blick auf den HRW-Bericht des Interpreter, der leider viel weniger Leser hat.

Der Interpreter erklärt, dass “der Bericht, in dem es heißt, beide Seiten waren an der Verwendung von Streumunition in zivilen Gebieten beteiligt, konzentriert sich aber auf die angebliche Nutzung von Streubomben durch die ukrainischen Streitkräfte als eine Verletzung der internationalen Menschenrechte.

Obwohl sie nicht schlüssig sind, deuten die Umstände darauf hin, dass Anti-Regierungskräfte auch für den Einsatz von Streumunition verantwortlich gewesen sein können”, sagte HRW, und weiter “forderte Russland auf, eine sofortige Verpflichtung abzugeben, Streumunition nicht zu verwenden und dem Streumunitionsvertrag beizutreten.”

HRW konzentriert sich auf die Untersuchung auf eine Reihe von Gebieten zwischen den Frontstellungen, die – wie sie sagen – vom ukrainischen Militär kontrolliert wurden. Und behauptet auch, dass es besonders eindeutige Beweise dafür gebe, dass ukrainische Regierungstruppen Anfang Oktober für mehrere Angriffe mit Streumunition auf das Zentrum von Donezk verantwortlich gewesen seien.

Der Interpreter würde Beweise von nicht explodierten Raketen in der Nähe von ukrainischen Stellungen als “ziemlich überzeugende Beweise, dass das ukrainische Militär die fragliche Streumunition verwendet hat”, bezeichnen, und der HRW-Bericht sagt außerdem aus, dass die von Russland unterstützten Separatisten ebenfalls Streubomben eingesetzt haben können.” Die internationale NGO bestätigt auch, dass es oft schwer war, die Schuld für ein bestimmtes Ereignis zuzuordnen.

Trotz der Erwähnung der möglichen Verwendung von Streumunition durch die Rebellen liegt der Hauptaugenmerk auf den Vorwürfen in Bezug auf die ukrainische Regierung.

Der Interpreter stellt fest: “Es gibt in dem Bericht fast keine Rohdaten, Videos, Bilder oder Informationen, die unabhängig überprüft werden könnten.” Es ist schwierig, in bestimmten Fällen etwas ohne Ansicht der verwendeten Videos, Karten und Bilder beurteilen und nachvollziehen zu können, wie sie zu ihren Schlussfolgerungen kamen.

Der Interpreter will in keiner Weise den HRW-Bericht abwerten, möchte aber auf die Bedenken hinweisen, die auch von anderen geteilt werden, die die Ereignisse im Osten der Ukraine aus der Nähe verfolgen.

Der Bericht “verwendet wenig bis gar keine Mühe darauf, den regelmäßigen Artillerie-Beschuss durch die von Russland unterstützten Separatisten anzusprechen, der den Hauptgrund für die die militärische Reaktion der Ukraine in Donezk bildet und bei dem ebenfalls Zivilisten getötet werden.”

Die Autoren merken an, dass die vorliegenden Erkenntnisse “darauf hindeuten,” dass die ukrainische Regierung eben nicht für die übergroße Mehrzahl der zivilen Todesopfer in Donezk verantwortlich ist. Aus diesem Grund, neben anderen, kann das Fehlen von Informationen über Angriffe anderer Art irreführend sein.

Der Interpreter liefert Beweismaterial dafür, dass der Vorwurf der russischen Regierung, das ukrainische Militär sei für den Tod von mindestens 10 Menschen an einer Schule und Bushaltestelle verantwortlich, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit falsch ist. Die Autoren bieten Beispiele als Gegenbeweis und zeigen ihren Standpunkt auf einer Karte. Der HRW-Bericht hat darüber auch jede Erwähnung der Artilleriebeschusses des Einkaufszentrums Amstor und der Wohnblocks auf der Kuibyschewa-Straße in Donezk weggelassen. Der Interpreter legt andererseits Beweise dafür vor, warum die Aussagen von Augenzeugen auch unzuverlässig sein können.

Die Autoren vermuten, dass dieser Artilleriebeschuss, bei dem zwei Zivilisten getötet und 9 verletzt wurden, vielleicht deswegen nicht im HRW-Bericht enthalten ist, da dies nichts mit Streubomben zu tun hatte. Dies ist einer der drei Punkte, die in den HRW-Bericht von Bedeutung sind.

“Streubomben gehören nicht zu den hauptsächlichen Waffensystemen, die von beiden Seiten verwendet werden, und deswegen ist eine Konzentration auf Streumunition mindestens problematisch, da es einen unangemessenen Schwerpunkt auf einen Aspekt der Gefahr für die Zivilbevölkerung legt.”

Der zweite Punkt ist, dass der Artilleriebeschuss Teil eines militärischen Umfelds ist, in dem die eine Seite, die ukrainischen Soldaten, völlig von umgeben sind und keine Drohnen haben für die Ausrichtung ihrer Waffen. Die vom Kreml unterstützten Militanten haben absolute Bewegungsfreiheit und verfügen über Drohnen. “Das bedeutet keine Entschuldigung für die Vorgehensweise des ukrainischen Militärs, aber es macht es verständlich, weil die einzige Möglichkeit für die umzingelten Truppen eine Verteidigung mit Artillerie-Unterstützung ist,” schreibt der Interpreter.

“Der dritte Punkt ist, dass, nur weil es Beweise für die Ausführung dieser Art von Beschuss durch beide Seiten gibt, in der Regel noch nicht bedeuten kann, dass für einen bestimmten Vorfall die eine Seite oder die andere schuld ist.” Der Interpreter stellt fest, dass keine Schuldzuweisung für den Angriff erfolgt, bei dem der Rot-Kreuz- Mitarbeiter Laurent DuPasquier starb.

Dies gilt für die zitierte Passage. Jedoch wird eine große Anzahl von Lesern wahrscheinlich nur den Anfang des HRW-Berichts gelesen haben. Und dort wird behauptet, dass die Beweislage “auf die Verantwortung der ukrainischen Regierungstruppen für mehrere Angriffe mit Streumunition auf Donezk hindeutet” und dann geht man sofort zu DuPasquiers Tod über. Es ist sehr wahrscheinlich, dass deswegen die meisten Leser davon ausgehen, dass es sich bei dem Angriff, in dem er zu Tode kam, um einen den Regierungstruppen zugeschriebenen handelte.

Der Interpreter findet einen weiteren Punkt sehr erwähnenswert: Er weist darauf hin, dass die “von Russland unterstützten Militanten dem Human-Rights-Watch-Team bei Gelegenheit geholfen haben”, und liefert Screenshots, auf denen “Männer zu sehen sind, die wie Rebellen aussehen, die möglicherweise mit dem HRW-Team zusammenarbeiten”.

Es wäre absolut wichtig zu überlegen, warum die Militanten in einigen Fällen kooperierten, es in anderen Fällen dem HRW-Team aber verweigert haben, ein bestimmtes Gebiet zu untersuchen.

Die Schlussfolgerung der Autoren ist, dass der HRW-Bericht “zu viel Gewicht auf Verletzungen durch die ukrainische Regierung legt, während der Kontext heruntergespielt wird, dass die von Russland unterstützten Separatisten der gleichen Verbrechen schuldig sind, dass Russland die Aufständischen militärisch und wirtschaftlich unterstützt, dass die von Russland unterstützten Aufständischen diejenigen sind, die die Waffenruhe gebrochen haben und den internationalen Flughafen Donezk angreifen, und dass es sehr wahrscheinlich ist, dass keine von diesen Kampfhandlungen überhaupt geschehen wäre, wenn es die Intervention Russlands in der Ukraine nicht gegeben hätte.”

Human Rights Watchs frühere Berichten haben ebenfalls Russlands unbestrittene Rolle in dem Konflikt im Osten der Ukraine außer Acht gelassen und mit Bestimmtheit erklärt, dass die Ereignisse im Donbas ein “innerer Konflikt” seien. Erwähnenswert ist, dass Amnesty International Anfang September einen Bericht herausgegeben hat, in dem es heißt, dass die von ihr ausgewerteten Satellitenbilder “in Verbindung  mit den Berichten über innerhalb der Ukraine gefangen genommene russische Militärangehörige und Augenzeugenberichten über den Grenzübertritt russischer Truppen und Militärfahrzeuge keinen Zweifel daran lassen, dass es sich jetzt um einen internationalen bewaffneten Konflikt handelt”.

Keine noch so breit angelegten Argumente aus dem Kontext können die Verwendung von Waffen rechtfertigen, die zu Recht verboten sind. Hier sind Human Rights Watch, Amnesty International, alle Menschenrechtsgruppen in der Ukraine und der Interpreter sind sich einig in der Aufforderung an die ukrainische Regierung, eine umfassende und glaubwürdige Untersuchung aller Vorwürfe sicherzustellen. Es sollte eine ähnliche Übereinstimmung über die Notwendigkeit für eine Sachdarstellung und  Berichterstattung von maximaler Objektivität und Genauigkeit herrschen. Angesichts der Tatsache, dass die OSZE mit einer großen Zahl von Beobachtern vor Ort keine Beweise für den “weit verbreiteten Einsatz von Streumunition” seitens einer Partei in dem Konflikt festgestellt hat, erscheint eine Reaktion von Human Rights Watch zu den oben aufgeführten Bedenken durchaus angemessen.

Autorin: Halya Coynash

Quelle: Charkiwer Menschenrechtsgruppe

Übersetzung: Euromaidan Press auf Deutsch

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