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Die Angehörigen des verwundeten Fallschirmjägers Nikolai Koslow über den Weg in die Ukraine: „Es ist eine Reise ohne Wiederkehr“

Translated by: Euromaidan Press Übersetzerteam Deutsch
Titelbild: Nikolai Koslow mit seinem Vater. Auf der Brust von Nikolai ist ein Orden: „für die Heimholung der Krim“. [Anm. d. Übers.: Der Overall, den er trägt, ist der Sprungdienst-Anzug der Fallschirmjäger] – Quelle: das russische soziale Netzwerk Vkontakte.

Die 31. Selbständige Garde-Luftlande-Sturmbrigade [Anm. d. Übers.: eine Fallschirmjäger-Eliteeinheit, deren sowjetischem Vorgänger dieser Ehrentitel für besondere Bewährung im Kampf verliehen wurde, ist eine sog. Selbständige Einheit, die nicht zwingend eingegliedert in einen übergeordneten Großverband kämpft] ging am 3. August 2014 „auf Übung“. Von Uljanowsk, dem Standort der Einheit, ging es mit Lastwagen zum Truppenübungsplatz Tscherbakul in Tscheljabinsk. Nikolai Koslow, der in Osersk bei Tscheljabinsk aufgewachsen ist, sah sich um – doch die vertrauten Berge des Ural waren nirgends zu sehen. Entlang der Straße erstreckte sich die Steppe. Bald erfasste es jeder: sie fuhren in die Ukraine.

„Vermutlich haben sie ihn auf die gleiche Art und Weise auf die Krim geschickt: angeblich verlegen sie dich für eine Übung, und peng! – bist du in Sewastopol.

Der Einsatzbefehl war unterzeichnet, du kannst dich nicht weigern. Das System funktioniert so, dass die Oberen wissen, was zu tun ist, und die Soldaten haben nichts zu sagen“, sagt Nikolais Onkel Sergej Koslow. „Ich fragte Nikolai: ‚Hast du irgendwelche Papiere unterzeichnet?‘ Er sagte: ‚Wenn ich musste, wurde alles für mich unterschrieben‘.“

Laut dem Einberufungszentrum Osersk hatte der 21-jährige Nikolai Koslow, von Beruf KFZ-Mechaniker, vor Juni 2013 seinen Wehrdienst in der Einheit 73612, 31. Selbständige Garde-Luftlande-Sturmbrigade, versehen, seit August 2014 hatte er in derselben Einheit als Vertragssoldat gedient.

Nikolai (links) in einer ukrainischen Polizeiuniform. Foto von der Vkontakte-Seite seines Vaters. Mai 2014
Nikolai (links) in einer ukrainischen Polizeiuniform. Foto von der Vkontakte-Seite seines Vaters. Mai 2014

Nikolais erste militärische Mission war auf der Krim. Nach Fotos, die der Vater der Fallschirmjägers auf seiner Vkontakte-Seite postete, „schützte Nikolai“ (wie es sein Vater nannte) „zuerst die neue Regierung in der Uniform unbekannter, höflicher junger Leute [russische Einheiten bei der geheimen Invasion der Krim] und dann in einer Berkut-Uniform [frühere ukrainische Bereitschaftspolizei].“

Nun zirkuliert Nikolais Foto in einer ukrainischen Polizeiuniform im Internet. Viele deuten an, dass russische Fallschirmjäger als Berkut verkleidet an der Zerstreuung der Maidan-Proteste im Februar teilgenommen hätten. Sergej glaubt, dass das Foto auf einem Gang des Parlamentsgebäudes der Krim aufgenommen worden sei, das Nikolai wahrscheinlich in der Verkleidung eines Berkut-Mitglieds bewachte, „die Jungen sind dumm, sie posten überall Fotos von der Ukraine, von der Krim,… niemand sah Fotos von Kiew. Unsere Burschen waren wahrscheinlich nicht dort. Und dann ist Nikolai ein Anti-Sabotage-Spezialist, die haben nicht gelernt, Schlagstöcke zu schwingen.“ Mit einer Auszeichnung für die „Heimkehr der Krim“ kehrte Nikolai nach Uljanowsk zurück. Er heiratete. Im August verschlug es ihn in die Ukraine.

Nikolai kämpfte zwei Wochen dort. Dem Ziel dieses Kampfeinsatzes zufolge (wie er seinem Cousin Dmitri gegenüber erklärte) drängte er die feindlichen Artilleriepositionen zurück.

“Nikolai sagt, dass die Ukrainer sehr kluge und schlaue Kämpfer sind“, erzählte uns Sergej. “Ihre Artillerie ist erstaunlich präzise. Koljas Einheit wurde in eine Falle gelockt. Zuerst nahmen die Ukrainer zwei von ihnen gefangen. Am 24. August rückten unsere Burschen aus, um sie zurückzuholen und wurden beschossen.“

Wie Koslow seinem Onkel erzählte, wurden sie mit panzerbrechenden Waffen beschossen. Der erste Schuss riss Nikolais Bein weg.

“Jeder glaubte, dass er tot sei“, sagt Sergej Koslow.“ Einer der Soldaten schaffte es, ihn aus der Schusslinie zu schaffen. Nikolai selbst band das, was von seinem Bein übrig geblieben war, ab, um die Blutung zu stillen und injizierte sich die Medikamente.”

Dann fuhren sie Kolja [Anm. d. Übers.: Koseform für Nikolai] mit Sepsis, Fieber und großem Blutverlust zwei Tage lang zurück zur Grenze. Im Militärkrankenhaus von Rostow (laut Kolja voll mit Verwundeten) wurde er operiert und nach Moskau geschickt.

Der Fallschirmjäger rief erst vom zentralen Armeekrankenhaus, benannt nach Wischnewski, das erste Mal daheim an. Die Offiziere kümmerten sich nicht darum, daher musste Kolja sich von jemanden ein Handy ausborgen. „Er nannte nur das Krankenhaus und das hat eine Menge Abteilungen in der Moskauer Region. Gott sei Dank lebe ich in Moskau, ich begann nach ihm zu suchen, bat auch meine Freundinnen und Freunde um Unterstützung und konnte ihn kaum finden.“, sagt Sergej.

Laut den Prognosen der Ärzte wird Nikolai vier Monate und länger im Krankenhaus bleiben. Gemäß den offiziellen Zahlen der Armeeversicherung bekommen Soldaten, die eine Behinderung der Gruppe 1 haben, 1,5 Millionen Rubel. “Das sind ungefähr 15 Monate deutsches Arbeitslosengeld“, rechnet Sergej. “Nicht genug, um in deiner Jugend behindert zu werden.“ Sergej merkt an, dass er nicht bemerkt habe, dass sein Neffe, als er mit ihm sprach, irgendein Interesse an den Ereignissen in der Ukraine hätte oder gegangen sei, um für seine Ideen zu kämpfen.

“Was für eine Politik, der Bursche ist 20… Eine Luftlande Brigade ist die Elite, die Spezialeinheit“, sagt Sergej Koslow. “Es ist cool dort, und man hat eine gute Chance zur UNO Friedenstruppe zu kommen und die Welt zu sehen. Darum ist Nikolai dorthin gegangen, Sie werden wirklich einer Gehirnwäsche unterzogen – ‚Wir sind von Imperialisten umgeben‘ – und sie nehmen es bis zu einem gewissen Grad in sich auf. Aber er wollte nicht in den Krieg ziehen. Sie schickten ihn einfach, er hatte den Befehl.

Sergej weiß nicht, wo genau sein Neffe verwundet wurde. Nikolai sagte nur, dass die in der Ukraine verbliebenen Fallschirmjäger in einen Angriff geschickt wurden. Den Nachrichten zufolge war es Mariupol.

“Nikolai erzählte mir: ‚Es ist eine Reise ohne Wiederkehr‘. Bataillone und Kompanien fahren hinein und kommen nicht mehr zurück. Panzer und Schützenpanzer fahren hinein und kommen nicht zurück. Nur Tote und Verwundete werden herausgebracht. Er sagt, dass alle Fahrzeuge, die in die Ukraine unterwegs sind, nur für den Hinweg betankt seien. Sie werden in der Ukraine keinen Treibstoff finden. Erwartet man nicht, dass sie wieder heimkommen?“

Wahrscheinlich um Funkdisziplin [Anm. d. Übers.: befohlenes Schweigen über Funk und andere elektronische Kommunikationsmittel) aufrechtzuerhalten, wurden den Männern in Nikolais Brigade die Handys und andere Kommunikationsmittel weggenommen. Der Fallschirmjäger erzählte Dmitri (seinem Cousin), dass ihre Einheit andere Männer in Tarnanzügen gesehen hatten, das Feuer eröffnet  und dann bemerkt hatten, dass sie auf ihrer Seite waren. „Sie haben auch Verluste durch den Beschuss eigener Leute.“

“Ich will Nikolai nicht traumatisieren, ich frage ihn nicht viel“, sagt Sergej. Ich stellte ihm nur eine Frage: Hast du jemanden getötet? Er antwortete: Ich weiß es nicht.“

Nikolai mit seiner Frau. Foto von einer Seite im sozialen Netzwerk Vkontakte
Nikolai mit seiner Frau. Foto von einer Seite im sozialen Netzwerk Vkontakte

 

* * *

Die Familienmitglieder reagierten äußerst verschieden auf Nikolais Verwundung. Der Onkel des Fallschirmjägers, Sergej Koslow, Moskauer IT-Angestellter, schrieb auf seiner Facebook-Seite: „Er hat jetzt kein Bein mehr und ist für den Rest seines Lebens behindert. Naja, wenigstens haben wir die Krim… fuck.“

Sein Vater, Wsewolod Koslow, Busfahrer bei der Kerntechnischen Anlage Majak  in Osersk wurde von  Echo Moskau am 3. September interviewt.

“Was soll ich sagen?“ meinte er. „Er ist Soldat. Er hat einen Eid geleistet und folgte gehorsam seinen Befehlen. Er ist nicht weggelaufen, hat sich nicht verdrückt wie eure Banderisten, die ihr immer unterstützt. Verstehen Sie? <…> Ich bin stolz auf ihn. Er ist ein richtiger Soldat. Und was auch immer ihm geschieht, werde ich ihm helfen, in unterstützen und ihn nie im Stich lassen. <…> Der Ural ist erst wieder in Putins Zeit zum Leben erwacht. Und ihr in Moskau… das ist ein völlig anderes Land. Wissen Sie, warum die Russen in der Ukraine „Moskals“ [ein Schimpfwort] genannt werden? Nur wegen Moskau. Sind Sie im Krieg gewesen? Haben Sie auch nur irgendeine Vorstellung, wie das ist? Können Sie sich vorstellen, wie es ist, wenn Grads von beiden Seiten feuern? Wenn unsere Grenzen bombardiert werden… Ich weiß nicht, wo er war. Wahrscheinlich an der Grenze. Und was er auch getan haben mag, er hat recht gehabt. Merken Sie sich meine Worte, er hat seine Befehle befolgt, Das ist alles.“

“Ich glaube, er hat diese Rede auswendig gelernt“, sagt Sergej ohne Hass, aber eher traurig.  “Wir sprachen am nächsten Tag mit meinem Bruder und er wiederholte sie Wort für Wort. Unser Großvater war Dissident, unser Vater war Dissident, ich bin selbst Dissident. Nur unser Bruder hat in Afghanistan gekämpft, hat sein ganzes Leben als Fernfahrer gearbeitet. Er hat einen Sohn nach seinem Abbild erzogen.“

Ich erreichte Wsewolod Koslow am Sonntag am Telefon, während er nach Moskau zu seinem Sohn fuhr. Drei Tage nach dem Interview mit Echo klang der Vater des Fallschirmjägers komplett anders: „Nikolai ist OK, ich weiß nicht, ob er behindert bleiben wird. Ich habe ihn noch nicht gesehen, ich kann es nicht sagen.“

Dieses „Ich weiß es nicht“ war die Kernaussage des Gesprächs. Ich fragte, ob Nikolai wirklich in der Ukraine verwundet worden sei.

“Ich weiß es nicht. Höchstwahrscheinlich nicht. Alles über die Ukraine ist nur Spekulation, das brauche ich nicht. Ich habe keinen Beweis im Moment. Es hat keinen Sinn herum zu labern.“

“Werden Sie auf einer Untersuchung der Umstände der Verwundung Ihres Sohnes bestehen?“

“Ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Ich habe dafür jetzt keine Zeit.“

Einige Zeit später fand ich am Freitag heraus, dass sich Wsewolod Koslow mit Journalisten traf, die von der Stadtverwaltung von Osersk versammelt worden waren, und ihnen erzählte, dass sein Sohn in einer „Friedensbrigade an der ukrainischen Grenze diente“, „derzeit im besten Krankenhaus in Moskau behandelt wird“ und sogar „in guter Stimmung ist“.

Als Reaktion postete die offizielle Website der Verwaltung Osersk die Nachricht, dass „die Familie des Soldaten, der sich einer schwierigen Lebenslage befindet, jede nur mögliche Unterstützung bekommen wird.“

Während Nikolai Koslow im Krankenhaus war, kam die Nachricht, dass zwei seiner Kameraden „in Ausübung ihrer militärischen Pflicht“ getötet worden seien. Nikolai Buschin, Stellvertretender Zugführer des 4. Zugs der 4. Kompanie der 31. Brigade, und Ilnur Kiltschenbajew[M1] , Oberschütze (~Obergefreiter) im Luftlande-Pionier-Sturmbataillon in der Einheit 73612 [Anm. d. Übers.: Pioniere sind nicht nur für Brücken- und Ponton-Bauten, sondern auch für die Minenverlegung und –Entschärfung zuständig]. Zwei weitere Fallschirmjäger der 31. Brigade, Ruslan Achmedow und Arsenij Ilmitow, wurden in Ilowajsk in der Ukraine am 28. August gefangen genommen.

P.S. Am Samstag strahlte das Staatsfernsehen NTV einen Nachrichtenbeitrag über Nikolai Koslow aus (ab Minute 11). Nikolai wurde vorgestellt als jemand, der „vor kurzer Zeit im Kampfgetümmel war und endlich heimgekehrt ist“.

Mit keinem Wort wurde erwähnt, ob er als Rebell oder als russischer Vertragssoldat gekämpft habe. Nur am Ende des Segments als Überleitung zum nächsten (über den Fotografen Andrej Stenin, der in der Ukraine getötet wurde) sagte der Gastgeber Wadim Tekmenew: „In den Verwundeten- und Totenlisten gibt es nicht nur Freiwillige, sondern auch solche, die im Dienst in den Krieg zogen.“ Es ist unklar, ob er sich auf den Fotografen Stenin oder den Fallschirmjäger Koslow bezog, was wahrscheinlich Absicht war.

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