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Nadja Tolokonnikowa: Putin hat Angst vor einer echten Opposition – wie er Angst vor Pussy Riot hatte

Kommentar von Nadja Tolokonnikowa, erschienen in The Guardian am 18. Juni 2014 (Übersetzung)

Er hat gerade die Krim erobert. Er hat sich selbst zum Einiger proklamiert. Aber Wladimir Putins Einmischung in die Wahlen ist ein weiteres Zeichen dafür, dass seine Macht nicht so bedingungslos ist, wie er gerne glauben macht

Nachdem wir aus dem Gefängnis freigelassen wurden, haben Mascha Aljochina und ich ernsthaft darüber diskutiert, ob wir uns in der institutionellen Politik versuchen sollten, und dachten nach über eine Kandidatur bei den Wahlen für die Moskauer Stadtduma nach (die am 14. September sein werden). Aber nachdem wir ein “schweres Verbrechen” begangen haben, dürfen wir nach russischem Recht 10 Jahre nicht bei einer Wahl kandidieren.

Ende letzten Monats kündigten Nikolaj Ljaskin und Konstantin Jankauskas ihre Kandidatur für die Moskauer Stadtduma an. Sie gehören zu den stärksten Oppositionskandidaten, und ich kenne sie seit Jahren. Sie wissen, wie man sich in einem guten Kampf stellt.

Aber zwei Tage später wurden ihre Häuser durchsucht, und die Behörden erhoben gegen die beiden Männer prompt Anklagen wegen Betrugs in Zusammenhang mit der Wahlkampagne des Oppositionsführers Alexej Navalny bei der Bürgermeisterwahl von 2013. Im Falle einer Verurteilung kann dies mit Gefängnis bis zu 10 Jahren bestraft werden – aber bis dahin können sie noch gewählt werden. Jankauskas bleibt wie Navalny unter Hausarrest, und ihm wird die Kommunikation mit der Außenwelt verweigert: er darf keine Telefonate führen, und sogar eine Internet-Verbindung ist nicht erlaubt. Ljaskin wurde während des Verfahrens mit der Auflage, dass er Russland nicht verlässt, auf freien Fuß gesetzt.

Warum sollte Putin – der gerade die Krim erobert hat, der sich selbst als Einiger der ehemaligen Länder von Russland unter der Sowjetunion ausgerufen hat, und der behauptet (nach staatlichen Meinungsumfragen) die Unterstützung von mehr als 80% der russischen Bürger zu genießen – nicht in der Lage sein, ein wenig trivialen Wettbewerb (ein paar unabhängige Oppositionspolitiker) zu tolerieren, selbst bei einer lokalen Wahl? Die Antwort ist einfach, und Ljaskin und Jankauskas wissen es: Putin hat Angst vor ihnen, genau wie Putin vor Pussy Riot Angst hatte.

Die Moskauer Wahlen bedeuten uns mehr als nur irgendwelche Regionalwahlen: Sie sind in absehbarer Zeit die letzte Chance, um eine Wirkung auf die nationale politische Agenda zu erreichen. Die nächsten Föderationswahlen (für die nationale Duma) sind erst im Jahr 2016, und ohne eine einzige Stimme der Opposition in der Regierung – es sei denn, es geschieht noch ein Wunder – sind wir zum politischen Monopol Putins und seiner Freunde verurteilt.

Jetzt, mit weniger als 100 Tagen vor den Wahlen zum Moskauer Stadtrat, ist der Wahlkampf der stärksten Kandidaten von der Strafverfolgung unterbunden worden. Ljaskin sagt jedoch, dass die Situation “einfach mehr Arbeit für uns macht (und unsere Anstrengungen jetzt zu reduzieren wird einfach nicht funktionieren)”.

Ljaskin, Jankauskas und eine dritte Person sind in den Fall verwickelt, Wladimir Aschurkow (der angeblich flürchtig ist). Ihnen drohen Anklagen, dass sie während des Bürgermeisterwahlkampfs von 2013 Online-Spenden in Höhe von 300.000 US$ von Unterstützern Navalnys gestohlen hätten. Aber weder Navalny noch die 16.000 Menschen, die für seinen Wahlkampf gespendet haben, betrachten sich als Opfer.

Navalny sagte für seinen Teil: “[Die Behörden haben] beschlossen, [Ljaskin, Jankauskas und Aschurkow] für das zu bestrafen, was wir alle gemeinsam demonstriert haben: Man kann eine große Kampagne finanzieren, die sich auf Menschen und nicht auf Kreml-Oligarchen oder Schwarzgeld stützt.” Die Ermittlungsbehörden befragen nun alle Spender für Navalny “Sind Sie sich bewusst über die politische Aktivität von Navalny? Haben Sie sich daran beteiligt, und wenn ja, unter welchen Umständen? Sie versuchen so jemanden zu finden, der sich selbst als Opfer dieses Finanzierungsschemas sieht. Aber diese Leute sind nicht die Opfer.

Es gibt etwas, wovor Putin Angst hat. Während Mascha und ich hinter Gittern saßen, ließen diese Andersdenkenden Wunder geschehen. Sie ließen einen Gleitschirm über die Plüschpaläste von russischen Beamten – Putins Freunden – außerhalb der Stadt fliegen, und haben die Fotos online hochgeladen. In einem korrupten politischen System gelang es ihrem Kandidaten Navalny dennoch, ein Drittel der Stimmen bei der Bürgermeisterwahl in der Hauptstadt im Herbst 2013 auf sich zu vereinigen. Die Bemühungen von Ljaskin und Jankauskas werden auch mit Spenden von Top-Managern und Eigentümern der führenden russischen Unternehmen unterstützt. – und Ashurkov ging in die Politik, nachdem er hohe Positionen in Russlands größter Finanzierungs- und Industriegruppe Alpha innehatte. Das sind keine leicht zum Schweigen zu bringenden Kritiker oder marginalisierte Menschen.

Dennoch erzeugen die jüngsten außenpolitischen Aggressionen Russlands ein höheres Risiko für die Oppositionskräfte im Inland, und der Hintergrund der heimischen Repression lässt sich zurückführen auf die militante isolationistische Propaganda der russischen Medien. Putin hat die russischen Oppositionskräfte als “fünfte Kolonne” der Verräter bezeichnet; er hat das Konzept einer “Russischen Welt” (Russkij Mir), die von Bürgern mit “einem besonderen genetischen Code” bevölkert sind, weiter entwickelt; und Sergej Kurginjan, Putins Politikwissenschaftler und TV-Moderator auf dem Hauptkanal der Nation, hat schon den Beginn des “Vierten Weltkriegs” angekündigt, mit der Ukraine und dem Westen auf der einen Seite und Russland auf der anderen.

Aber Putins Macht ist nicht so bedingungslos, wie er es uns – oder Ihnen – glauben machen will. Am 6. Mai [2012], dem Tag vor Putins jüngster Amtsübernahme, nahmen mehr als 100.000 Menschen an einer Demonstration teil und skandierten “Russland ohne Putin!” Heute stehen 31 Personen, die an dieser Demonstration teilgenommen haben, vor Gericht – und drei neue Leute haben sie gerade noch dem Fall hinzugefügt. Unter den neuen Beschuldigten ist eine junge Frau namens Pauline Strongina, die der “Teilnahme an Massenunruhen” beschuldigt wird, weil ein Video zeigt, dass sie eine Plastikflasche wirft. Nach russischem Recht ist “Massenunruhen” definiert als “Gewalt, Pogrome, Brandstiftung, Zerstörung von Eigentum, die Verwendung von Waffen und / oder Sprengstoffen”. Ihr droht eine Gefängnisstrafe von drei bis acht Jahren – alles für den angeblichen Wurf einer Plastikflasche.

Was haben diese Anklagen gemeinsam? Jemand stahl angeblich Geld von einer Person, die nicht den Anspruch erhebt, ein Opfer von Diebstahl zu sein. Jemand soll eine Plastikflasche geworfen haben und nahm damit an “Massenunruhen” teil. Eine andere Person wird angeklagt, weil sie eine Zitrone warf. Wieder andere, wie wir, sangen ein Lied. Die Beschuldigten haben anscheinend nicht unbedingt viel gemeinsam, außer dass sie alle das Gleiche wollen: Putin aus dem Amt.

Wenn die Behörden mit derartiger Härte gegen so kleine Verletzungen vorgehen, ist es schwer, nicht den Schluss zu ziehen, dass jemand in unserem Land sehr viel Angst hat. Und die Opposition weiß, dass wir nicht diejenigen sind, die etwas von einem Protest zu befürchten haben.

Quelle: http://www.theguardian.com/commentisfree/2014/jun/18/putin-pussy-riot-moscow-city-duma-elections

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