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Mychailo Wynnyckyj: Zusammenfassung von 22. Februar

Erläuterungen des Politologen Mychailo Wynnyckyj von der Kyiw-Mohyla-Akademie über den 22. Februar – die Verfassungsmäßige Situation nach der Parlamentsentscheidung über die Wiedereinführung der Verfassung von 2004 sowie die Optionen für Janukowytsch.

Übersetzt aus dem Englischen, Quelle: Euromaidan in English (Facebook)

Zusammenfassung von 22. Februar (Es ist solange nicht vorüber bis es vorbei ist)

Heute trauert und feiert die Ukraine gleichzeitig. Durch den Regen war der Boden auf dem Maidan besonders dunkel und klebrig – eine eindringliche Hinterlassenschaft der Feuer, die in der ganzen Stadt vor kurzem tagelang gebrannt haben. Auf den Blutlachen liegen jetzt Blumen, und kleine Gedenkstätten wurden überall da aufgestellt, wo bei den Kämpfen vom 19. und 20. Februar jemand getötet wurde. Die Särge der Helden, die ihr Leben auf Grund von Schüssen von Scharfschützen oder von Granaten der Sonderpolizei verloren haben, wurden den ganzen Tag über in Zweierpaaren zur Bühne gebracht – jeder einzelne wurde in einer anrührenden Zeremonie in Anwesenheit von Zehntausenden von Demonstranten verabschiedet.

Die Stimmung war einerseits gedrückt aber gleichzeitig auch freudig – gestern und heute; die Revolution hat große politische Siege errungen. Janukowytsch wurde seines Amtes als Präsident enthoben; neue Präsidentenwahlen wurden für den 25. Mai angesetzt; Julia Tymoschenko, die Symbolfigur für politische Repression des Regimes, wurde aus dem Gefängnis entlassen; der Innenminister Walerij Sachartschenko wurde zusammen mit dem Generalstaatsanwalt Wiktor Pschonka entlassen; die Verfassungsänderungen, die 2010 vom Verfassungsgericht für ungültig erklärt worden waren, sind wieder hergestellt worden. Auch wenn sich die frühere Opposition große Mühe gab, all diese Dinge mit größtmöglicher Legalität durchzuführen, so leben wir doch in revolutionären Zeiten, und solche Zeiten erfordern eine gewisse Innovationsfähigkeit bei der Gesetzgebung. Jeder einzelne dieser politischen Siege bedarf in gewissem Maße der Kommentierung.

Zu allererst: Die Verfassungsänderungen. Am vergangenen Abend stimmte das Parlament der Wiedereinführung der Verfassung zu, die in den letzten Tagen der Orangenen Revolution von 2004 unter durchaus zweifelhaften Umständen angenommen worden war. Ihr zufolge war aus der Ukraine eine parlamentarisch-präsidentielle Republik geworden, in der bedeutende Vollmachten vom Präsidenten auf das Parlament übergegangen waren. Das Gesetz, das das Parlament gestern Abend mit der in der Verfassung vorgeschriebenen Mehrheit verabschiedet hat, ist jedoch bisher nicht von Janukowytsch unterzeichnet worden. Und heute hat er in der Tat auf die Frage nach diesem Gesetz in einem aus Charkiw übertragenen Fernsehinterview geradeheraus gesagt, er würde es nicht unterschreiben. Das Parlament hat sich jedoch dafür entschieden, sich so zu verhalten, als ob die Verfassung von 2004 mit voller Rechtskraft wieder hergestellt worden wäre.

An diesem Vormittag eröffnete der Stellvertretende Sprecher Koschulynsky (Swoboda) die Parlamentssitzung mit der Erklärung, dass der Parlamentssprecher Rybak und der erste Stellvertretende Sprecher Kaletnik (Kommunisten) beide zurückgetreten seien. Nestor Schufrytsch, ein enger Vertrauter von Wiktor Medwedtschuk und hochrangiger Beamter im Regierungsapparat sprach von der Tribüne des Parlaments und erklärte, dass – weil die Ukraine die Verfassung von 2004 wieder eingeführt habe – die Funktionen des Präsidenten im Falle seines Rücktritts vom Sprecher des Parlaments ausgeübt würden. Deswegen sei es die erste Aufgabe des Parlaments, einen neuen Sprecher zu wählen. Innerhalb weniger Minuten verkündete Koshulynsky, dass zwei Kandidaten für das Sprecheramt nominiert worden seien: Turchynow (Batkiwschtschyna) und Poroschenko (ein Unabhängiger). Poroschenko verkündete sofort vom Parkett aus, dass er seinen Namen von der Wahlliste streichen möchte, und der Tymoschenko-Vertraute Turtschynow wurde zum Sprecher gewählt.

Angesichts des Rücktritts von Rybak und der Wahl Turtschynows mit qualifizierender Mehrheit gibt es keine Zweifel an seiner Legitimität als Parlamentssprecher. Dennoch bleibt fraglich, welche Verfassungsversion die Vollmachten von Turtschynow als Parlamentssprecher definiert. Insbesondere ist dabei wichtig, dass gemäß der Verfassung von 1996 bzw. 2010 die Vollmachten des Präsidenten bei Verhinderung oder Rücktritt geschäftsführend dem Ministerpräsidenten übertragen werden. Andererseits ist nach den Bestimmungen der Verfassung von 2004 der Parlamentssprecher Vizepräsident der Ukraine (d.h. geschäftsführender Präsident im Falle von Verhinderung oder Rücktritt). Die Ukraine befindet sich derzeit in einer sehr unklaren rechtlichen Lage: welche Fassung der Verfassung ist gültig? Technisch gesehen hat das Parlament gestern Abend die Wiedereinführung der Verfassung von 2004 beschlossen. Aber der Präsident hat dieses Gesetz nicht unterzeichnet, so dass es noch nicht in Kraft getreten ist. Streng formalistisch gesehen bedeutet dies, dass die Verfassung im Wortlaut von 1996 bzw. 2010 immer noch in Kraft ist, aber der amtierende Ministerpräsident Arbusow war an diesem Tag nicht auffindbar. Auf die Frage eines Journalisten hierzu war sich Jazenjuk seiner Meinung sehr sicher: weil das Parlament die Verfassung von 2004 mit einer qualifizierenden Mehrheit von über 300 Stimmen wieder eingeführt habe, sei – unabhängig davon ob das Gesetz unterschrieben worden sei – der Parlamentssprecher Turtschynow der Amtierende Präsident.

Nach Turtschynows Wahl fuhr das Parlament vorsichtig fort: zunächst stimmten die Abgeordneten über die Bestätigung von Arsen Awakow (Batkiwschtschyna und früherer Bürgermeister von Charkiw) als Innenminister ab. Danach wurde Pschonka als Generalstaatsanwalt abgesetzt und dann Tymoschenko aus der Haft entlassen. Alle drei Abstimmungen waren zweifelsfrei legitim und gesetzeskonform. Danach verkündete Turtschynow eine Pause – vermutlich um die Freilassung von Tymoschenko zu veranlassen und Janukowytsch über die neue politische Realität im Land in Kenntnis zu setzen. Während der Pause gab der Batkiwschtschyna-Abgeordnete Wiatscheslaw Kirilenko dem Parlamentsfernsehprogramm “Rada” ein Interview und behauptete, der Präsident habe seine Rücktrittserklärung unterzeichnet. Diese Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, wurde jedoch gegen 16 Uhr wieder hinfällig, als die Ansprache des Präsidenten im Fernsehen übertragen wurde.

Nachdem der Aufenthalt des Präsidenten jetzt klar war (obwohl ungeklärt ist, ob mit dem Präsidenten bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt Kontakt aufgenommen worden war), brachte Turtschynow eine Beschlussvorlage zur Abstimmung, deren Zulässigkeit in den kommenden Monaten und Jahren sicherlich noch eine heiße Debatte entfachen wird. Und tatsächlich hat Jurij Miroschnitschenko, Janukowytschs Vertreter im Parlament, sofort erklärt, dass der Beschluss lediglich eine politische Willenserklärung ohne Auswirkung auf die Rechtslage darstelle. Es geht um den Artikel 111 der Verfassung, der ein äußerst kompliziertes Verfahren für eine Amtsenthebung vorsieht: Zunächst muss ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss gebildet werden, der in den Fällen von dem Präsidenten vorgeworfenen Verbrechen ermitteln muss. Der Ausschuss muss sein Ergebnis sowohl dem Obersten Gericht als auch dem Verfassungsgericht vorlegen, die beide darüber zu befinden haben, und erst dann kann das Parlament über die Amtsenthebung abstimmen. Die ukrainischen “Revolutionäre” – angeführt von Turtschynow und Jazenjuk – stimmten heute jedoch in einer Abkürzung dieses Verfahrens mit einer einfachen Beschlussvorlage ab, derzufolge der Präsident seiner Pflichten enthoben sei. Als Zeugnis für die Stimmung im Parlament heute sei gesagt, dass diese Vorlage von 328 Abgeordneten unterstützt wurde. Entsprechend bleibt Janukowytsch formell Präsident der Ukraine, bis am 25. Mai ein neuer Präsident gewählt wird, jedoch ohne Amtsvollmachten.

War diese Entscheidung verfassungsgemäß? Nur das Verfassungsgericht kann über diese Frage entscheiden, und eine solche Entscheidung kann nur erfolgen, wenn mindestens 50 Abgeordnete dies verlangen. Unter den gegebenen Umständen ist es sehr unwahrscheinlich, dass 50 Abgeordnete ein solches Begehren an das Gericht unterzeichnen werden, so dass es innerhalb von drei Monaten entscheiden muss – und demzufolge wird die Sache strittig bleiben.

So wie es aussieht, bemüht sich das Parlament, für einen Anschein von Ordnung im Land zu sorgen. Formal verlangt das von Janukowytsch unterzeichnete Verhandlungsergebnis vom 20.2.2014 (das mit Hilfe der Vermittler von der EU ausgehandelt worden war), dass der Präsident die vom Parlament am Freitag beschlossenen Verfassungsänderungen bis Sonntag unterzeichnet. Wenn diese Änderungen in Kraft treten, kann das Parlament in vollständiger Legalität eine neue Koalitionsmehrheit bilden und über einzelne Kabinettsmitglieder abstimmen. Angesichts der derzeitigen Stimmungslage habe ich keine Zweifel, dass die neue Mehrheit unabhängig davon, ob die als Bedingung erforderliche Unterzeichnung bis zum Ablauf der Frist am Sonntag zustande kommt oder nicht, über einen neuen Ministerpräsidenten und ein Kabinett beschließen wird. Und das wird am Sonntag geschehen.

Und mit dem heutigen Tage ist eine weitere neue Realität (abgesehen vom de-facto Ausscheiden von Janukowytsch) in der ukrainischen Politik vorhanden: Tymoschenko ist frei.
Nach ihrer Freilassung heute am Abend fragte man sie, ob sie sich als Präsidentin aufstellen lasse, und sie antwortete, dass sie auf jeden Fall es tun werde. Persönlich glaube ich, dass dies eine katastrophale Entscheidung wäre, aber ihre Rede auf dem Maidan hatte deutliche Anzeichen von Vorwahlkampf. Anstatt aber meine eigene Meinung über die Rede von Tymoschenko zu äußern möchte ich lieber aus dem folgenden Facebookeintrag zitieren:

“Wie traurig, wie unsagbar traurig ist es zu sehen, wie sehr sich Tymoschenko bemüht, die Menge auf dem Maidan aufzuputschen, ohne dass sie weiß, dass die Welt, die sie kannte, sich jeneseits der Wiedererkennungsmöglichkeit gewandelt hat. Leider ist sie jetzt eine ausgemusterte Politikerin in einer Welt, die sie nicht versteht. Wenn sie wirklich als Präsidentin kandidiert, wird sie den ersten Wahlgang wahrscheinlich nicht überstehen. Besser wäre es, sie würde sich einfach in Ehren zur Ruhe setzen und ihre Memoiren schreiben, denn es gibt in der heutigen ukrainischen Politik keinen Platz für sie.” (Martin Nunn, Facebook, 22.2.2014)

Tymoschenko wiederholte mehrmals, wie sehr es ihr leid tue, dass sie nicht an der Revolution teilnehmen konnte, aber sie “garantierte”, dass “so etwas dem Volk nie wieder geschehen werde”. Das Paradigma dieser Erklärung ist deutlich vorrevolutionär. Die Ukrainer glauben nicht mehr länger daran, dass jemand in der Regierung ihr “Beschützer” sein solle. Im Gegenteil, sie haben gezeigt, dass sie es sich nicht mehr gefallen lassen, “regiert” zu werden – sie wollen eine Regierung auf Grundlage einer wirklichen Volksvertretung, und sie sind willens und fähig (wie Klitschko gestern schmerzlich feststellen musste), dafür zu sorgen, dass die Amtsinhaber in einer Regierung gegenüber dem Volk rechenschaftspflichtig sind. Tymoschenko glaubt wohl noch daran, dass die Ukrainer “regiert” werden wollen/müssen. Ich befürchte, dass wir für den Fall ihrer Wahl zur Präsidentin dann vor Ablauf ihrer Amtszeit einen neuen Maidan haben würden.

Wenn man nach meinem Facebookstream urteilt (der sicher nicht repräsentativ ist), genießt Tymoschenko nicht mehr viel Popularität. Aber realistisch gesehen ist ihr Sieg bei der anstehenden Präsidentenwahl eine sehr gut mögliche Option. Die Nutzer von sozialen Netzwerken im Internet entstammen meist der gebildeten Mittelklasse. Die Wähler Tymoschenkos sind aber sehr ähnlich denen von Janukowytsch, außer dass ihre Hochburgen im Westen und Zentrum des Landes anstatt im Osten liegen. Die Wähler von Tymoschenko sind eher über 50, gering gebildet und hauptsächlich aus der Arbeiterklasse. Obwohl es sich dabei um die aktivste Wählerschicht handelt, mag das nach dem Maidan alles nicht mehr wichtig sein.

Aber die Frage, wer der nächste Präsident der Ukraine sein wird, bleibt für zukünftigen Debatten. Auch wenn der Maidan heute Abend seine Siege feiert (und gleichzeitig um seine Toten trauert), ist die Revolution noch nicht vollendet. Janukowytsch ist am Leben und gesund, und auf ukrainischem Boden. Er bleibt eine wichtige Figur in der ukrainischen Politik. Wie ich heute auf dem Maidan bemerkt habe, war ich nicht der einzige, der versuchte, die vermeintliche Präsidentenmaschine auf dem Flugradar zu orten – bis um 16.30 Kyiwer Zeit. Das Flugzeug, das wir alle beobachteten, landete in den Vereinigten Arabischen Emiraten – aber Janukowytsch war nicht an Bord, wie sich dann herausstellte. Er gab aus Charkiw ein Fernsehinterview. Er nannte die heutigen Geschehnisse von Kyiw einen “Staatsstreich” und bestand darauf, dass er der legal gewählte Präsident der Ukraine sei.

Es muss für Janukowytsch ganz besonders schmerzhaft gewesen sein, mit ansehen zu müssen, wie seine kostbare Residenz Meschyhirja für Journalisten und einfache Bürger geöffnet wurde. Dort fand man Beweise für überstürzte Einpackversuche, zahlreiche Kunstwerke und wertvolle Sammlergegenstände, darunter eine große Oldtimer-Sammlung blieben da. Man entdeckte auch Dokumente, die das gigantische Ausmaß von Janukowytschs Korruptionssystem deutlich machten, aber auch Beweisstücke, denen zufolge das Regime es gezielt auf einzelne oppositionelle Journalisten und Aktivisten der Zivilgesellschaft abgesehen hatte. Auch seine berüchtigte goldene Toilette wurde in seinen Privatgemächern gefunden, und Viagra-Ersatzpillen auf dem Nachttisch. Beim Spaziergang durch den Park, den Zoo und den privaten Goldplatz lästerten die Journalisten über die Opulenz des palastartigen Anwesens und Grundstücks. Angesichts der zuvor vorhandenen extremen Sicherungmaßnahmen war es besonders erstaunlich, dass die Torwächter in Meschyhirja die Journalisten einfach so hineinließen, noch nicht einmal irgendeine Sondergenehmigung war nötig. Natürlich hatten die Wachmänner alle die Nase von seinem Regime genauso gestrichen voll wie die Revolutionäre auf dem Maidan.

Nach allem was heute passiert ist, und nach dem Verlust jeglicher Unterstützung durch die ukrainische Polizei und die Sicherheitskräfte, ist es schwer vorstellbar, dass Janukowytsch jemals wieder sein Präsidentenamt effektiv ausüben könne. Allerdings kann man sich schon vorstellen, dass Janukowytsch sich selbst als Anführer einer Ersatz-Ukraine (beispielsweise) aus den drei östlichen Regionen (Charkiw, Luhansk und Donezk) sowie der Republik Krim einrichten könnte. Natürlich müsste er hierfür erst wieder die Loyalität der örtlichen Eliten gewinnen und um russische Unterstützung nachsuchen, so etwas kann man derzeit einfach noch nicht ausschließen.

Das obige Szenario hängt stark davon ab, wie sich die Ostukrainer in den nächsten Tagen selbst definieren. Der Maidan in Kyiw wurde wesentlich von Westukrainern getragen, die für eine Ukraine in den jetzigen Grenzen mit einer Hauptstadt Kyiw zu kämpfen und zu sterben bereit waren. Es stellt sich jedoch die Frage, ob Zentral- oder Westukrainer auch zum Kampf um Donezk oder Charkiw als Teil der Ukraine bereit sind, wenn die Einwohner dieser Städte selbst kein Interesse haben. Ostukrainer haben in der Geschichte immer wieder gezeigt, dass sie eine starke regionale Identität verspüren (so auch in zahlreichen Umfragen), und jetzt müssen sie sich klar werden, ob diese regionale Identität stärker ist als ihr ukrainisches Nationalbewusstsein. In seinem heutigen Interview sagte Janukowytsch ganz deutlich, dass er in naher Zukunft in die südöstlichen Regionen reisen werde, “um eine Lösung aus der gegenwärtigen Krise für diejenigen zu finden, die angesichts der Gewalt und des Banditentums in Kyiw ruhig zuhause geblieben waren.”

Janukowytsch ist nach wie vor gefährlich. Er kann weiterhin darauf bestehen, der legal gewählte Präsident zu sein, mindestens bis zum 25. Mai. Der Interimsregierung in Kyiw drohen massive wirtschaftliche Probleme, und Janukowytsch könnte dies als Vorteil nutzen, indem er im Osten eine Kampagne führt, in der er die Revolutionäre als eine Gaunerbande darstellt, die die legitime Regierung gestürzt und das Land schlecht regiert habe. Das wird aber dem Wahlvolk im Osten ganz schwer zu vermitteln sein, aber mit russischem Rat und russischer Hilfe könnte es dennoch möglich sein. Außerdem sind viele der gedungenen Schläger (“Tituschki”), die das Janukowytsch-Regime in den vergangenen Wochen nach Kyiw hatte schaffen lassen, Berichten zufolge immer noch vor Ort, und diese können in größerem Maße Unruhe schaffen (z.B. durch Einbrüche, Abfackeln von Autos, Straßenkämpfe). Und sie könnten so zu dem Bild beitragen, dass auf Grund der “Revolution” ein Abstieg in die Anarchie unabwendbar sei.

Die Destabilisierung der Lage in Kyiw und das gleichzeitige Ausspielen der Karte der regionalen Identität im Osten könnte für den sich als “legitimen Präsidenten, dem man sein Land geraubt hat,” darstellenden Janukowytsch eine erfolgreiche Strategie sein, wenn er ausreichend russische Unterstützung erhält. Falls diese Strategie erfolgreich ist, wäre das Beste, was er sich erhoffen könnte, eine lebenslange Präsidentschaft in einem kriminalisierten Pufferstaat an der ukrainisch-russischen Grenze (ähnlich wie Abchasien, Transnistrien oder die Region Kaliningrad). Aber selbst eine solche Option ist aus der Sicht von Janukowytsch noch dem Exil oder einem Gerichtsverfahren vorzuziehen.

Unglücklicherweise ist eine solche Option wahrscheinlich auch im Interesse Putins. Die Ereignisse von heute müssen für den Kreml desaströs sein. Jurij Luzenko hat die Bedrohung heute auf der Bühne des Maidan in Worte gefasst, als er wünschte, dass die Russen bald auf den Geschmack von gleichen Freiheit kommen werden, wie sie die Ukraine heute Abend genieße. Für Putin ist der Maidan eine tödliche Bedrohung für sein Regime, denn der Dominoeffekt ist unausweichlich. Jeder normale Russe wird sich jetzt fragen “wenn die Ukrainer sich ihres autoritären Regimes entledigen konnten, warum können wir das nicht auch mit unserem?” Und deswegen wird der Kreml mit großer Wahrscheinlichkeit in den nächsten Wochen und Monaten alles daransetzen, das Bild vom Erfolg der Revolution in der Ukraine auf jedwede Art zu unterminieren. Ein offensichtlicher Weg hierfür wäre, Janukowytsch als “exilierten Präsidenten” in einer Ukraine zu installieren, die nur die östlichen Regionen des Landes umfasst, aber die Legitimität für das ganze Land beansprucht. In Wirklichkeit würde eine solche Janukowytsch-geführte “Ukraine” nur die drei Regionen im Osten kontrollieren, und die Regierung wäre völlig vom Kreml abhängig – könnte aber in den russischen Medien als die “legitime Ukraine präsentiert” werden (im Unterschied zur “Banditen-Ukraine”), die deswegen den Schutz wert sei und dem russischen Volk als besseres Beispiel dienen könnte als die Revolutionsregierung in Kyiw.

Ich hoffe ehrlich, dass ich falsch liege, denn solch eine Teilung des Landes ging kaum ohne Gewalt vor sich, sowohl in Kyiw als auch ganz sicher im Osten. In jedem Fall, so lange Janukowytsch am Leben und/oder in der Ukraine ist, so lange ist die Revolution auch noch nicht beendet.

Es tut mir leid, dass ich so pessimistisch bin, aber meiner Meinung nach räuspert sich die dicke Frau zwar die Gurgel frei, fängt aber noch nicht an zu singen. Mit anderen Worten, die Revolution ist weit entfernt davon, vorbei zu sein.

Gott helfe uns!

Mychailo Wynnyckyj, PhD, Kyiw-Mohyla Akademie

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